ANALYSE. Beim Werben um türkischstämmige Wähler verharmlost der Wiener Bürgermeister, was Erdogan zu verantworten hat.
Der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) setzt im Hinblick auf die Gemeinderatswahl am kommenden Sonntag auf Breite: Die Boulevardzeitung „Österreich“ hat ihn gerade mit den Worten zitiert, dass man kriminelle Jugendliche unter 14, die noch nicht strafmündig sind, aber große Schwierigkeiten machen, „aus dem Verkehr ziehen“ müsse. Das könnte auch Wähler ansprechen, die weit rechts der Mitte sehen. Schon vor Wochen hat sich Ludwig dafür ausgesprochen, für schwer kriminelle Kinder geschlossene Wohngemeinschaften einzurichten.
Auch beim Werben um türkischstämmige Wähler geht der Sozialdemokrat sehr weit, um es vorsichtig zu formulieren. Viele dieser Wähler sind Anhänger des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und der AKP, seiner Partei. Ludwig hat da nicht nur keine Berührungsängste (er traf AKP- und AKP-nahe Bürgermeister), während Amtskollegen europaweit gegen die Verhaftung des Istanbuler Stadtoberhauptes Ekrem İmamoğlu, einem ernstzunehmenden politischen Herausforderer von Erdogan, protestierten, hielt er sich zurück. Das sei „wirklich irritierend“, kommentierte der „Standard“.
In einem Interview mit der „Presse“ sagte Ludwig nun: „Meine Einstellung zu diesem Bürgermeister ist wie zu jedem anderen in der Politik, gegen den derzeit Korruptionsvorwürfe in verschiedenen Ländern erhoben werden. Ich äußere mich nicht dazu, weil ich es auch nicht beurteilen kann.“
Auf die Nachfrage, ob er also damit rechne, dass es in der Türkei ein normales rechtsstaatliches Verfahren gibt und dass die Gerichte unabhängig agieren, antwortete er schließlich: „Solang nichts Gegenteiliges bewiesen wird.“
Das ist zumindest zynisch. Unter dem autoritär agierenden Präsidenten Erdogan werden Rechtstaatlichkeit und Demokratie mit Füßen getreten. Dem Länderbericht Türkei von Amnesty International ist zu entnehmen: „Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen, Oppositionspolitiker*innen und andere Personen waren weiterhin ungerechtfertigten Ermittlungen, strafrechtlicher Verfolgung und Verurteilungen ausgesetzt.“
In einem Bericht der Europäischen Kommission wird das weitgehend bestätigt: Es gebe eine Abkehr der Türkei von den Standards für Menschenrechte und Grundfreiheiten, zu denen sie sich als Mitglied des Europarats verpflichtet habe. Die Funktionsweise der demokratischen Institutionen weise „schwerwiegende Mängel“ auf. Und: Die Justiz nehme „systematisch“ Parlamentsabgeordnete von Oppositionsparteien wegen behaupteter Straftaten ins Visier.