Kurz und die „Sie werden sich noch wundern“-Falle

ANALYSE. Der ÖVP-Chef geht offensichtlich schon von einem sehr klaren Wahlsieg aus und übersieht dabei, dass die Österreicher nicht zu viel Ungewissheit wollen.

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ANALYSE. Der ÖVP-Chef geht offensichtlich schon von einem sehr klaren Wahlsieg aus und übersieht dabei, dass die Österreicher nicht zu viel Ungewissheit wollen.

Wenn man die Umfragewerte und die Ergebnisse der Nationalratswahl 2002 und der ersten Runde der Bundespräsidentenwahl 2016 studiert, dann sieht man: Ist viel in Bewegung, ist alles möglich. Dann könnte die „Neue Volkspartei“ von Sebastian Kurz am 15. Oktober zum Beispiel auf 27 Prozent genauso gut kommen wie auf 42,3 Prozent. Ja 42,3 Prozent: Das schaffte die ÖVP unter Wolfgang Schüssel vor 15 Jahren. Und damals lag sie in den Umfragen wenige Wochen davor bei 32 bis 35 Prozent, womit wir zumindest bei einem ersten Kapital eines gewissen Déjà-vu Erlebnisses angelangt wären, aber natürlich festhalten müssen, dass der weitere Verlauf völlig offen ist.

Die Lehre davon lautet aber, dass man sich endlich angewöhnen sollte, Dinge durchzudenken, die schier unvorstellbar wirken. Das kann sich bewähren. Vor wenigen Tagen ging dieSubstanz.at beispielsweise der Fragestellung nach, ob Kurz im Falle eines Wahlsieges auch eine Minderheitsregierung bilden könnte. Das Ergebnis lautete ja und noch einmal ja: Der erste Text hatte den Titel „Kurz braucht keine Koalition“, der zweite „Auf dem Weg in die 3. Republik“.

„Vielleicht kann man ja etwas Neues ausprobieren.“

Fast schon erschreckend identisch dazu äußerste sich Kurz nun in einem Interview mit der Boulevardzeitung „Österreich“. Zitat: „Vielleicht kann man ja etwas Neues ausprobieren in Österreich. Sollte ich Erster werden, würde ich versuchen, möglichst viele Parteien zu finden, die bereit sind, mit uns Projekte umzusetzen. Ob das eine klassische Koalition ist oder etwas völlig Neues, müssen wir uns dann anschauen.“

Der ÖVP-Chef riskiert damit überraschend viel – und eröffnet Kanzler Christian Kern (SPÖ) auch schon zum ersten Mal seit längerer Zeit ein bisschen Hoffnung: Die Wortfolge „ob das eine klassische Koalition ist oder etwas völlig Neues, müssen wir uns dann anschauen“ hat dasselbe Potenzial wie die, die der freiheitliche Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer lieferte: „Sie werden sich noch wundern, was alles möglich ist.“

Das ist gar nicht gut angekommen. Im Gegenteil: Viele Österreicher mögen sich nach einem starken Mann in dem Sinne sehnen, dass einer alle Reformblockaden überwindet und durchgreift, damit endlich etwas weitergeht in diesem Land. Sie wollen zugleich aber auch wieder nicht zu viel Veränderung und vor allem keine Ungewissheit. Hofer hat es jedenfalls geschadet, dass er eine solche aufkommen ließ; sonst hätte er das Zitat später nicht selbst bedauert.

Die Mitbeweber werden ihm jetzt wohl unterstellen, dass er mit dem Land experimentieren wolle.

Im Grunde genommen will sehr wahrscheinlich eine Mehrheit der Wähler eine stabile Regierung, die nicht weiter von sich reden macht. Umso bemerkenswerter ist eben, dass Kurz etwas ganz anderes in den Raum stellt; etwas nämlich, was ihm seine Mitbewerber bis hin zu Christian Kern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch so vorhalten werden, dass er mit der Macht spielen oder gar auf Kosten des ganzen Landes experimentieren wolle.

Nebenbei verrät der Überlegung von Kurz, unter Umständen keine Koalition zu bilden, sondern zu „versuchen, möglichste viele Parteien zu finden, die bereit sind, mit uns Projekte umzusetzen“, dass er von einem sehr klaren Wahlsieg ausgeht: Ein solcher Versuch kann nämlich schon von vornherein nur dann funktionieren, wenn die ÖVP so dominant ist, dass die anderen Parteien kaum anders können, als ihr zu folgen.

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