ANALYSE. Staatspolitische Verantwortung wäre, sich für die Regierungsbildung nicht unnötig viel Zeit zu nehmen. Zumal die Verhältnisse klar auf dem Tisch liegen.
Am Abend der Vorarlberger Landtagswahl hat sich Landeshauptmann und ÖVP-Chef Markus Wallner gewissermaßen in einen Strudel hineingeredet. Nachdem er im Ö1-Interview betont hatte, dass es bei seiner Regierungsbildung schneller gehen werde als in Wien unten, begründete er letzteres mit den Umständen, mit denen sein Bundesparteiobmann Sebastian Kurz konfrontiert ist: Die Freiheitlichen haben sich abgemeldet und die Sozialdemokraten sind mit sich selbst beschäftigt. Das ist korrekt. Aber: So gesehen müsste es genau umgekehrt sein: Wallner ist mit vier Parteien konfrontiert, die mit ihm regieren wollen (neben Grünen sind dies die FPÖ, die SPÖ und die Neos). Von daher könnte man absolut Verständnis dafür aufbringen er würde nun wochenlang herumsondieren.
Bei Kurz ist das jedoch viel, viel einfacher: Stand heute kann er ausschließlich mit den Grünen Koalitionsverhandlungen führen. Fragt sich nur: Worauf wartet er? Auf staatspolitische Verantwortung pfeift der 33-Jährige jedenfalls. Das hieße, sich nicht unnötig viel Zeit zu nehmen, sondern Fakten zu schaffen. Zumal er bei anderer Gelegenheit ja auch selbst immer wieder darauf hinweist, dass eine große Herausforderung warte: die drohende Wirtschaftsflaute. Insofern ist es geradezu empörend, so zu tun, als wäre es vollkommen egal, ob eine Regierung vor oder nach dem Christkind steht.
Dass Kurz trödelt, ist selbstverständlich nachvollziehbar. Aber ausschließlich nach taktischen Gesichtspunkten. Und das macht die Sache nicht besser. Zunächst ist da die Landtagswahl in der Steiermark. Wie auf Bundesebene geht es für die Volkspartei auch dort darum, möglichst viele enttäuschte FPÖ-Wähler zu gewinnen. Sie sind die Basis eines ÖVP-Erfolgs. Ist vor dem Wahltag, dem 24. November, Türkis-Grün wahrscheinlich, wird’s damit jedoch schwer – das würde eher nur die FPÖ stärken.
Türkis-Grün bedarf, so es denn ernst gemeint ist, auch eines ÖVP-Paradigmenwechsels, der Zeit braucht: Wer, wie Kurz, bisher betont hat, eine „ordentliche Mitte-Rechts-Politik“ betreiben zu wollen, kann kaum ohne massive Glaubwürdigkeitsverluste von heute auf morgen eine Mitte-Links-Politik machen, wie sie mit den Grünen zumindest in Teilen halt notwendig wäre. Dazu ist Überzeugungsarbeit nötig. Und eine neue Geschichte, die man aus dem, was Kurz neuerdings sagt, durchaus herauslesen kann: Wenn das Thema Wirtschaft bei ihm plötzlich oberste Priorität hat und nicht mehr Migration, dann ist das etwas, was Türkis-Grün viel eher entsprechen könnte.
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Andererseits muss sich Kurz so viel Zeit nehmen, gerade weil die Verhältnisse so klar auf dem Tisch liegen: Für den Fall der Fälle muss der Öffentlichkeit deutlich gemacht werden, dass Türkis-Grün nicht geht und daher eine Minderheitsregierung oder Türkis-Bau II unausweichlich sei; das ist nur nach eingehenden Sondierungen und Koalitionsverhandlungen möglich, die ein echtes Bemühen zum Ausdruck bringen. Soll heißen: Kurz gewinnt erst mit der Zeit mehr Optionen als er heute hat.