ANALYSE. Bundeskanzler und ÖVP-Chef wirbt offensiv um Wähler in der Kernzielgruppe des Koalitionspartners.
Neos und Grüne dürfen hoffen: Sie sind bei der EU-Wahl 2014 viel eher von jenen gewählt worden, die finden, dass die EU-Mitgliedschaft „eine gute Sache“ sei als von jenen, die von einer schlechten Sache reden. Das hat die damalige SORA-Erhebung gezeigt. Den beiden Parteien könnte nun ein größeres Potenzial übrig bleiben: Die ÖVP hat die Seite gewechselt. Weniger denn je buhlt sie um „Pro-Europäer“, mehr denn je um EU-kritische bis antieuropäische Leute. Bei diesen hatte die FPÖ vor fünf Jahren eine absolute Mehrheit, kam laut SORA auf ganze 60 Prozent. Das soll sich aus Sicht der Neuen Volkspartei ganz offensichtlich ändern.
Kurz hat Karas de facto abgezogen.
Bundeskanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz hat Othmar Karas von der Wahlkampfführung seiner Partei de facto abgezogen, um selbst bestimmend zu werden: Am Wochenende wandte er sich gegen „Bevormundung“ durch Brüssel und einen „Regelungswahnsinn“ der EU. Abgesehen davon, dass er als Regierungsmitglied (inkl. Ex-Außenminister) seit Jahren die österreichische Vertretung in Brüssel mitbestimmt und die EU noch immer zu einem erheblichen Teil wie ein Verein nur die Summe der Mitgliedstaaten ist, sorgte er damit für Verwunderung; den EU-Vorsitz im zweiten Halbjahr 2018 hat er nicht dazu genützt, um solche Akzente zu setzen.
Die Masse wird anfällig dafür sein.
Andererseits: Hier geht es nicht um die Sache, sondern die Botschaft. Wer, ohne das zudem vernünftig zu präzisieren, so spricht, will ausschließlich Wähler gewinnen. Und welcher Österreicher, der findet, dass die Mitgliedschaft in der EU eine schlechte Sache ist, soll sich nicht von Begriffen wie „Bevormundung“ und „Regelungswahnsinn“ angesprochen fühlen? Sagen wir so: Die Masse wird anfällig dafür sein.
Wie schon im Nationalratswahlkampf ist Kurz dazu übergegangen, in der freiheitlichen Kernzielgruppe zu grasen. Vor einigen Jahren tat er das, indem er sich vom Fürsprecher einer Willkommenskultur zu dem Politiker wandelte, der die Schließung der Balkanroute durchsetze und landauf, landab propagierte, dass es keine Zuwanderung ins Sozialsystem gegen dürfe. Im Hinblick auf das Wahlergebnis vom Oktober 2017 war er damit sehr erfolgreich – auf Kosten der Freiheitlichen wohlgemerkt, die zuvor schon das Kanzleramt fix in ihren Händen gewähnt hatten.
Kurz kann es nicht lassen, mit freiheitlichen Methoden zu agieren.
Heute wiederholt Kurz das. Was doppelt bemerkenswert ist: Zum einen handelt es sich nicht mehr bloß um eine Kampfansage an eine Oppositionspartei, sondern eine solche an den Koalitionspartner. Zum anderen zeigt es, dass der 32-Jährige im Sinne des Wahlerfolgs nicht davon lassen kann, mit freiheitlichen Methoden zu agieren. Anders kann er dieses Wählersegment, das er 2017 überzeugt hat, nicht halten, wie es scheint und er meint.