ANALYSE. Mit dem fortgesetzten Krisenmodus gehen fundamentale Richtungsentscheidungen einher. Über die Legitimationsgrundlage sollte diskutiert werden.
Abgesehen davon, dass jetzt kein Wahlkampf stattfinden kann, könnte die Verlockung für ÖVP und Grüne groß sein, zu den Urnen zu rufen: Beide haben in den vergangenen Wochen deutlich zugelegt. Umfragen, die im Auftrag von „profil“ und „Der Standard“ durchgeführt wurden, sehen die ÖVP bei 43, 44 Prozent und die Grünen bei 19 Prozent. Eine Zweidrittelmehrheit wäre den beiden Regierungsparteien damit gewiss. Größere Verliererin würde es im Moment nur eine geben: die FPÖ. Und in gewisser Weise natürlich auch die SPÖ: Sie ist nicht einmal halb so stark wie die neue Volkspartei von Sebastian Kurz und würde auch mit Grünen und Neos weiterhin keine (einfache) Mehrheit zusammenbringen.
Doch lassen wir das: Diese Umfragen stehen ganz im Zeichen des bisherigen Krisenmanagements und sind in Ländern, in denen es ebenfalls funktioniert, nicht ganz unähnlich. In Deutschland legt die CDU von Angela Merkel gemeinsam mit der CSU in Richtung 40 Prozent zu. Vor gar nicht allzu langer Zeit noch hat sie sich eher 20 Prozent angenähert.
Die Frage, um die es hier geht, ist jedoch anders gemeint: In den vergangenen Wochen haben ÖVP und Grüne in der Not sehr weitreichende Entscheidungen getroffen, die allein in budgetärer Hinsicht zumindest auf 15, 20 Jahre hinaus spürbar bleiben werden. Das ist das eine. Das andere: Diese Krise wird, soweit man das heute beurteilen kann, zu gesellschaftlichen Verwerfungen führen. Die Tiroler Tourismusbranche etwa, an der zehntausende Jobs hängen, wird in der nächsten Wintersaison nicht an der vorletzten und auch nicht an der vorvorletzten anknüpfen können. Viele Menschen in den Tälern werden vielmehr ohne Erwerbseinkommen bleiben. Wie überhaupt die Viertelmillion, die seit Mitte März arbeitslos geworden ist, verdammt lange darauf warten müssen wird, bis sie wieder so etwas wie Normalität erfahren darf. Ja, es gibt Schätzungen, wonach die weltweite Armut erstmals seit 1900 zunehmen dürfte; in Österreich wird jedenfalls der Wohlstand sinken.
Die politischen Angebote, mit denen ÖVP, SPÖ, FPÖ, Neos und Grüne in die letzte Nationalratswahl gegangen sind, sind für die kommenden Herausforderungen mehr oder weniger unbrauchbar geworden. Sebastian Kurz wird sich etwas anderes als die Entlastungs- und Im-System-sparen-Geschichte einfallen lassen müssen. Jetzt geht es nicht nur ums Geld verteilen, sondern darum, die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen und Mittellosigkeit zu bekämpfen. Die Grünen müssen Klimaschutzmaßnahmen zumindest in einen völlig neuen Kontext stellen: Wie lassen sich die Umbrüche wenigstes in eine nachhaltige Richtung lenken? Auch das Regierungsprogramm, auf das sich Regierungsvertreter gerne berufen, ist praktisch wertlos geworden.
Vor diesem Hintergrund sollte – ungeachtet der Umfragewerte, die einem gefallen oder missfallen können – schon darüber diskutiert werden, ob Neuwahlen zu gebotener Zeit, also nach Bewältigung der Gesundheitskrise, nicht zwingend nötig wären: Mit dem bestehenden Abgaben und Steuern wird man ebenso wenig weit kommen wie mit den bestehenden Ausgabenstrukturen. Auch das bisherige Verständnis der Staatsaufgaben wird kaum ausreichen. Wird es daher aus demokratiepolitischen Gründen nicht einen Wettbewerb der Ideen und ein Votum des Souveräns geben müssen? dieSubstanz.at meint ja.
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