ANALYSE. Die Vorgangsweise der Bundesregierung beim Familiennachzug ist haarsträubend. Motto: Recht hat der Politik zu folgen.
„Einfach machen“, lautet der Titel einer Analyse vom 9. September des vergangenen Jahres auf diesem Blog. Es ging um eine Aussage von FPÖ-Chef Herbert Kickl im ORF-Duell mit Neos-Sprecherin Beate Meinl-Reisinger, über die sich nicht nur die heutige Außenministerin wunderte: Gefragt, wie er einen Asylstopp durchsetzen würde, würde ein solcher doch wesentlichen Rechten widersprechen, antwortete er, dass er das einfach machen würde. Punkt. Recht hat seines Erachtens schließlich der Politik zu folgen.
Die Kritik war groß. Heute setzt es nichts Vergleichbares für die schwarz-rot-pinke Regierung. „Wir werden den Familiennachzug stoppen“, sagt Innenminister Gerhard Karnrr (ÖVP). Basta. Reaktionen aus Brüssel seien ihm „relativ egal“.
Das entspricht dem Geist des FPÖ-Chefs: Man kann auch hier nicht einfach machen, was man will. Es gibt zwar eine EU-Notfallklausel (Art. 72 AEUV). Dafür müssen jedoch Voraussetzungen erfüllt sein. Die öffentliche Ordnung und die innere Sicherheit müssen gefährdet sein.
Das weiß Karner und berichtet von Überlastungen des Bildungs- und des Gesundheitssystems. Und natürlich: Vor allem in Wien gab es im vergangenen Jahr eindeutig zu viel Familiennachzug, kamen zu viele Schulen gewissermaßen noch schlechter als recht über die Runden als sie es ohnehin schon getan hatten. Darüber muss man nicht diskutieren.
Sich selbst zum Stopp zu ermächtigen, geht jedoch nicht: Man muss Gründe vorlegen, und über deren „Überzeugungskraft“ entscheide in letzter Instanz der EuGH, so Daniel Thym vom Forschungszentrum für Ausländer- und Asylrecht im deutschen Konstanz in der Beantwortung einer Anfrage der österreichischen Grünen Ende 2022.
Bis dahin hat es laut Thym noch niemand geschafft, den EuGH zu überzeugen, dass er die Notfallklausel für sich geltend machen könne: „Bisher war dieses Unterfangen immer erfolglos.“
Umso mehr kann man sich wundern, wie Karner jetzt aufritt.
Für Österreich könnte es sogar besonders schwierig werden, wie sich aus den Ausführungen Thyms schließen lässt. Zitat: „Vergleichsweise wohlhabenden und gut organisierten Ländern wie Österreich fällt eine Berufung auf Art. 72 AEUV (noch) schwerer als anderen Staaten. Im Zweifel dürfte sich der EuGH nämlich an den paneuropäischen Mindeststandards orientieren, um zu beurteilen, ob ein Aufnahmesystem zu kollabieren droht oder nicht.“
Da kann man jetzt selbstverständlich einwenden, das Maß für das Schulsystem in Wien könne nicht ein paneuropäischer Mindeststandard sein. Es wird jedoch nichts bringen. Außer man ist rechtspopulistisch veranlagt und will nur ein Signal gesetzt haben; dass man – dem Regierungsmotto entsprechennd – „das Richtige“ wolle, aber vom Europäischen Gerichtshof daran gehindert werde. Seht, seht, liebe Bürger!
Der EuGH verlangt laut Thym „typsicherweise eine prognostische Gesamtbetrachtung“. Was ist also zu erwarten? Das leitet über zu einem ORF-Wien-Bericht und zum Wiener Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ): „Monatlich kommen derzeit rund 630 Erwachsene und Kinder nach Österreich, hauptsächlich aus Syrien“, so das Landesstudio am Dienstag zunächst. Rund 80 Prozent davon würden in Wien landen. Und: Ludwig begrüße daher den Stopp des Familiennachzugs. Später korrigierte der Sender: Die Zahl sei vom Juni 2024. Seither gehe sie deutlich zurück.
Das kann auch Lukas Gahleitner-Gertz von der Organisation „Asylkoordination Österreich“ bestätigen: Im vergangenen Sommer seien die Zahlen zunächst überhaupt eingebrochen, nachdem das Innenministerium von Karner angekündigt habe, DNA-Tests durchzuführen und nochmals Dokumente in allen Verfahren zu überprüfen. Seit dem Umsturz in Syrien würden zudem syrische Fälle auf Eis liegen. Stand Jänner: Insgesamt 91 Einreisegestattungen, davon 35 für Kinder im schulpflichtigen Alter. Davon zu unterscheiden sind tatsächliche Einreisen, die zeitversetzt erfolgen. Hier handelte es sich im ersten Monat dieses Jahres noch um 252. Aber auch das sind wesentlich weniger als von Monat zu Monat im ersten Halbjahr 2024: Da wird es nicht einfacher, den EuGH zu überzeugen.