ANALYSE. Durch einen „Ethikkodex“ sollen prominente Journalist:innen mundtot gemacht werden. Das Ziel kann nicht erreicht werden, zumal dem Ganzen naive Annahmen zugrunde liegen.
Der ORF hat ein Problem: Im Jahresvergleich ist der Anteil der Österreicherinnen und Österreich, die ihn zu den Medien zählen, denen sie am meisten vertrauen, zurückgegangen. Von 56 auf 50 Prozent, wie Eurobarometer-Erhebungen zeigen. Im Vergleich mit anderen Medien mag das noch immer ein sehr guter Wert sein, sie aber haben keinen öffentlich-rechtlichen Auftrag und für sie muss man auch nicht bezahlen, ob man will oder nicht. Stichwort Haushaltsabgabe.
Was tun? Generaldirektor Roland Weißmann hat dem Stiftungsrat, in dem jetzt auch Kickl-Mann Peter Westenthaler (FPÖ) sitzt, einen „Ethikkodex“ vorgelegt. Das sei „ein Pakt mit dem Publikum“, sagte er laut einer Aussendung. In Wirklichkeit enthält dieser Kodex unter anderem dies: Korrekt formuliert Regeln für Redakteurinnen und Redakteure, wie sie sich öffentlichen zu verhalten haben. Zugespitzt formuliert handelt es sich um einen Maulkorb.
Der Kodex ist eine Dienstanweisung, die im Detail noch nicht öffentlich vorliegt. Es geht aber darum, das Redakteurinnen und Redakteure (sowie weitere Mitarbeiter:innen) künftig auf Twitter (X) und anderswo politisch möglichst neutral auftreten. Was soweit durchaus vernünftig klingen mag, handelt es sich doch um Leute, die für den ORF stehen, der wiederum für relevante Informationen für alle Menschen in Österreich stehen sollte; nicht nur Türkise oder Rote oder Blaue oder Grüne oder Pinke. Das verpflichtet.
Die Sache hat jedoch zwei Haken. Erstens: Ein wachsender Teil der Menschen in Österreich lehnt das ab, was Herbert Kickl als „System“ bezeichnet. Also Politik im Rahmen einer repräsentativen, einer liberalen Demokratie. Und den ORF. Dieser Teil er Menschen ist im Übrigen gegen Europa, ausgesprochen wissenschaftsfeindlich und so weiter und so fort. In der Pandemie hat sich das verstärkt.
Zweitens: Kickl arbeitet mit dieser Masse, er setzt sich an ihre Spitze. Und er bietet sich daher gezielt an, ein „System“ zu zerschlagen. Also die liberale Demokratie. Er sagt ganz offen, dass er aufräumen und sich zu einem „Volkskanzler“ erklären würde. Viktor Orban ist sein Vorbild. Den ORF würde er zu einem „Grundfunk“ machen, de facto also viellicht zu einem Verlautbarungsorgan mit viel Heimatpflege.
Zu glauben, man könne diese Entwicklungen durch einen braven ORF stoppen, ja umkehren, ist absurd. Von Redakteurinnen und Redakteure zu erwarten, dass sie zu den erwähnten gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen nichts Notwendiges mehr sagen, ist Beihilfe zur Kickl’scher Demokratiebeschädigung.
Herbert Kickl ist kein gewöhnlicher Akteur der Politik. Er bezeichnet Mitbewerber als Volksverräter, setzt sie auf Fahndungslisten. 20, 30 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher finden das gut so.
Neutral damit umgehen heißt im redaktionellen Teil: „Guten Abend, alle nicht-freiheitlichen Politikerinnen und Politiker werden von den Freiheitlichen jetzt auf eine Fahndungsliste gesetzt. Es handle sich um Volksverräter. Nähere Ausführungen sollen morgen folgen.“ Auf Twitter (X) dürfen ORF-Mitarbeiter:innen diese Nachricht gerne teilen. Aber kommentarlos.
These: So gewinnt der ORF weder Kickl noch die 20, 30 Prozent der Österreicher:innen, die hinter ihm stehen. Schlimmer: Er verliert auch noch die 70, 80 Prozent (oder viele davon), die sich von Redakteurinnen und Redakteuren Standpunkte im Sine der liberalen Demokratie erwarten, die unterschiedliche Ausrichtungen, aber keine Gegner der liberalen Demokratie verträgt.