Was ist es uns wert?

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ANALYSE. Der deutsche Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble warnt davor, alles dem Schutz von Leben unterzuordnen.

Der deutsche Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hat hoffentlich eine Debatte eröffnet, die dringend notwendig ist. Gerade auch in Österreich: Der 77-jährige Christdemokrat hält es für falsch, bei der Bekämpfung der Coronakrise allein dem Lebensschutz die höchste Priorität einzuräumen. „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig“, sagte er in einem Interview mit dem Tagesspiegel: „Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen“, erklärte er. Diese sei unantastbar, schließe aber nicht aus, „dass wir sterben müssen“.

Österreich schritt mit dem Hinweis zum Lockdown, dass es ansonsten „100.000 Tote“ (Bundeskanzler Sebastian Kurz) geben könnte und das Gesundheitssystem zusammenbrechen würde. Beides konnte verhindert werden. Und wie: Bis Sonntag, 26. April, zählte das Gesundheitsministerium 520 Todesfälle. Die Spitäler waren in den vergangenen Wochen praktisch leer. Sicherheitshalber waren Kapazitäten freigemacht worden, also andere Patienten nach Hause geschickt oder gar nicht erst aufgenommen worden, um im Falle des Falles genügend Coronapatienten behandeln zu können.

Beschränkt man sich allein auf die Pandemie, war Österreich extrem erfolgreich in ihrer Bekämpfung. Allerdings hatte diese Bekämpfung einen Preis, der unermesslich ist. Um zunächst beim Gesundheitswesen zu bleiben: Wie viele Menschen darunter litten und leiden, vorübergehend keine oder nur eine eingeschränkte Versorgung gehabt zu haben, wird man erst sehen; es sind nicht wenige.

Was eher, aber auch nicht wirklich absehbar ist, sind die wirtschaftlichen Folgen: Hunderttausende in Kurzarbeit oder gar Arbeitslosigkeit, ganze Branchen (wie der Tourismus) in Perspektivenlosigkeit. COVID-19 ist zwar (aufgrund der Unbeherrschbarkeit) mehr schlecht als Recht unter Kontrolle gebracht, Massen wissen aber weder ein noch aus und fürchten um ihre Existenz.

Auch der Staat stößt an seine Grenzen: Die Sicherung des Gesundheitswesens war so übergeordnet, dass unzählige Kollateralschäden letzten Endes auch ihn treffen werden. Sozialleistungen, wie die Pensionen, die Arbeitslosgengelder und die Mindestsicherung, werden angesichts dessen, was zu befürchten ist, mit den vorhandenen Mitteln unfinanzierbar.

Da ist es überfällig, auf das einzusteigen, was Schäuble vorgelegt hat: Eine Debatte darüber, was Staat und Gesellschaft alles brauchen, um auch morgen noch bestehen zu können; bzw. eine Auseinandersetzung darüber, wie weit wir in der COVID-19-Bekämpfung zur Sicherung von Leben und Gesundheitsversorgung gehen können, ohne überhaupt alles zu gefährden.

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