ANALYSE. Österreich bleibt ein „Freitesten“ zum Glück erspart. Hohe Zahlen erfordern noch länger größere Beschränkungen.
Vor Weihnachten haben Wissenschatler aus mehreren Ländern in der renommierten Medizinzeitschrift „The Lancet“ einen Aufruf veröffentlicht, die internationale Zusammenarbeit zur Bekämpfung der Pandemie zu verstärken und dabei auch ein Ziel anzupeilen, das geradezu illusorisch klingt: Die Zahl bestätigter Neuinfektionen sollte auf weniger als zehn pro Tag und Million Einwohner gedrückt und ebendort gehalten werden. Umgelegt auf die gängige 7-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohner und Woche entspricht das einem Wert von sieben. Sieben! Österreich lag am 3. Jänner bei einhundertsechsundsechzig (166); und das auch noch nach leicht steigender Tendenz.
Die Experten begründen ihre Forderung – vereinfacht ausgedrückt – so: Es ist schwer bis unmöglich, ein bisschen Pandemie zuzulassen. Vor allem bei einer höheren Inzidenz kann die Lage schnell wieder außer Kontrolle geraten – und das führt dann erst recht zur Fortsetzung nicht nur zu einer gesundheitlichen, sondern auch wirtschaftlichen Katastrophe. Das Problem verstärkt sich nun durch die Mutation, die in Großbritannien näher untersucht worden ist; das Virus ist demnach wesentlich ansteckender geworden.
Deutschland wird bei einer Inzidenz von knapp 200 nervös, fixiert (im Dezember) einen harten Lockdown und ist nun bei 140 entschlossen, diesen fortzusetzen. Österreich gibt sich einem gewissen Schlendrian hin. Es diskutierte über ein Ende des Lockdowns bzw. das Freitesten für eine Woche bzw. die Möglichkeit, von 18. bis 24. Jänner mit einem negativen Testergebnis Lokale mit begrenzten Öffnungszeiten oder tagsüber Konzerte zu besuchen. IHS-Chef Martin Kocher hat sich schon früh skeptisch geäußert. Zum einen aufgrund der Kosten, die damit verbunden sein könnten; und zum anderen warnte er, dass dieses Freitesten womöglich die Illusion vermittle, „dass man für längere Zeit nicht infiziert ist, was klarerweise nicht stimmt. Antigentests sind nur eine Momentaufnahme“, wie Kocher in einem „Zeit“-Interview erklärte.
SPÖ, FPÖ und Neos haben das Ganze jetzt abgedreht. Sie hätten die Maßnahme über den Bundesrat blockiert. Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) erklärte daraufhin, dass es beim harten Lockdown bis zum 24. Jänner bleiben wird.
Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) müsste, wenn nicht dankbar, dann zumindest froh sein. Sein Parteisekretär wettert zwar „Fundamentalopposition“, er selbst betont aber immer wieder, dass die Maßnahmen härter wären, wenn es allein nach ihm gehen würde. Jetzt haben ihm Rote, Blaue und Pinke geholfen.
Österreich hat – zum guten Teil auch selbstverschuldet – keine andere Wahl, als länger im Lockdown zu bleiben. So lange Deutschland eine viel niedrigere Inzidenz und trotzdem weitreichende Beschränkungen aufweist, kann’s in der Alpenrepublik keinen Holdrio geben. Sonst bleiben die Grenzen zu. Das aber ist das schwächste Argument.
Schlimmer ist dies: Zum Impfstart sprach Kurz von einem „Game-Changer“. Theoretisch könnte die Impfung ein solcher sein. Nicht aber, wenn man trödelt: Israel hat schon Hunderttausende geimpft, Deutschland ist mit 200.000 auch schon in Fahrt gekommen; die Zahlen steigen täglich und werden auch täglich veröffentlicht wie Angaben über Infektionen.
Und in Österreich? Auf der Website des Gesundheitsministeriums steht am 4. Jänner gegen Mittag noch immer nur eine Meldung vom 30. Dezember, wonach vom Boden- bis zum Neusiedlersee schon „rund 6000 Personen“ geimpft worden seien. Hierzulande soll es eher erst nach den Ferien losgehen. Womit man naturgemäß auch wertvolle Zeit verstreichen lässt, sich gegen das Virus zu stärken – und eben auch Lockerungen zu ermöglichen.
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