ANALYSE. Das Coronavirus verschwindet nicht. Höchste Zeit für die Politik, Selbstgefälligkeit aufzugeben und den „Koste es, was es wolle“-Kurs zu überprüfen.
Keine drei Wochen ist es her, da sah Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) Österreich einmal mehr gut durch die Coronakrise gekommen. Und zwar sowohl gesundheitlich als auch wirtschaftlich, wie er im Nationalrat erklärte. Vor nicht einmal einer Woche hielt Kurz wiederum eine Videokonferenz mit den „First-Mover-Countries“ ab: Die Regierungschefs der Besten der Besten haben sich laut obligatorischem Bericht der „Kronen Zeitung“ (inkl. Foto natürlich) darüber ausgetauscht, wie man regionale Ausbrüche klein halten kann. Nicht, das letzteres schaden könnte, im Gegenteil.
Es ist aber Zeit für einen Paradigmenwechsel: Von einer gewissen Überheblichkeit hin zu einer Art Demut. Und vor allem weg vom Glauben, dass das Coronavirus eigentlich schon besiegt ist. Das böse „Spiel“ geht weiter – und kann selbst Österreich im Nachbarschaftsvergleich von heute auf morgen sehr schlecht dastehen lassen. Wobei man nüchtern bleiben muss: Bei einer Zuwachsrate von 7,1 pro 100.000 Einwohner und sieben Tagen befindet man sich noch im grünen Bereich. Es gibt jedoch Grund zur Sorge.
Die österreichische Politik war bisher geprägt von der Überzeugung, dass es gar keinen Virusfall geben darf; und in weiterer Folge davon, dass man das Virus mit aller Kraft beseitigen muss. In diesem Sinne gab es eine Art „Lockdown“ und etwas, was Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) als „Koste es, was es wolle“-Kurs bezeichnet hat: In der Annahme, dass man nach Ostern wieder zum Alltag zurückkehren und voll durchstarten kann, ging man daran, erstens schnell und zweitens so viel Geld wie nötig ins System zu pumpen, um eine überschaubare Zeit des Stillstandes überbrücken zu können.
Zahlreiche Fälle in Wien, Salzburg und Oberösterreich bekräftigen jedoch, dass das zu kurz gedacht war. Wir befinden uns wirklich in einem Marathon. Und wir mögen auf dem ersten Kilometer schneller als andere gelaufen sein; wir haben dabei aber extrem viel Energie verbraucht.
IHS-Chef Martin Kocher bringt es in einem „Kurier“-Interview auf den Punkt: Es würden ein paar Jahre ausschließlich Corona drohen. Sprich: Der Marathon dauert noch sehr lange. Und wir werden noch sehr viel Energie und Reserven benötigen.
Vor diesem Hintergrund ist es fraglich, ob es sinnvoll ist, die Einkommensteuer zu senken, um ein Beispiel zu nennen: Die Maßnahme dient dazu, die Menschen zu mehr Konsum zu animieren. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass sie davon ausgehen, dass die Krise dem Ende zugeht und es daher nicht nötig ist, für schwere Zeiten zu sparen. Soll heißen: Wenn die erste COVID-19-Welle im Grunde genommen zu einer (abgeschwächten) Dauerwelle wird, die sich noch dahinziehen wird, könnte eine Einkommensteuer-Senkung jetzt verpuffen und „nur“ zu einem noch höheren Defizit führen. „Außer Spesen nichts gewesen“, sozusagen.
Damit kein Missverständnis entsteht: Niemand weiß, was kommt. Die Neuinfektionen in Österreich, aber auch anderen Ländern, die bisher so gut durch die Krise gekommen sind (Israel, Australien etc.) zeigen aber, dass man mehr und mehr vom Szenario einer quälend langen Krise ausgehen muss.
Immerhin aber gibt es daneben Hoffnung: Viele Beispiele zeigen, dass sich der Umgang mit dem Virus stark verbessert hat. Die Liste ist lang: Der Cluster Salzburg ist wieder unter Kontrolle gebracht worden. Tschechien weist nach stark steigenden eher sinkende Zuwachsraten auf. Deutschland ebenfalls: In Nordrhein-Westfalen, wo es ausgehend vom Tönnies-Fleischkonzern tausende Fälle gegeben hat, ist die Rate nur noch halb so hoch wie vor zwei Wochen (und mit 6,2 im Übrigen auch wieder niedriger als aktuell in Österreich). Ja, sogar Schweden gehört studiert: Das Land im hohen Norden hat in den vergangenen unglaublich viele Neuinfektionen, aber überraschend wenige Intensivpatienten sowie Todesfälle aufgewiesen.
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