ANALYSE. Wenn die Regierung bei einer Linie bleiben würde, hätten es Kritiker schwer. Altkanzler Schüssel hat ihre größte Schwäche nun jedoch unterstrichen.
Altkanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) hat ein paar Stunden lang die Vermutung aufkommen lassen, Österreich werde sich bei der Bekämpfung der Pandemie ab sofort am eidgenössischen Weg orientieren: Es gehe „um sorgfältige Abwägungen miteinander in Konkurrenz stehender Grundrechte und Prioritäten“, so der 75-Jährige in einem Gastbeitrag in der „Süddeutschen Zeitung“: „Dabei ist der Schutz der Gesundheit zweifellos sehr wichtig, aber nicht absolut. Er kollidiert mit anderen Grundrechten wie etwa der persönlichen Freiheit, der Berufs- oder Erwerbsfreiheit.“
Zu Ende gedacht würde der kluge Ansatz bedeuten, dass man künftig wirklich alles tun muss, damit es zu keinem flächendeckenden Lockdown kommt; dass Schulen offen bleiben; dass man Museen nicht mehr schließen darf und Buchhandlungen zumindest eine kontaktfreie „Waren“-Übergabe erlaubt wird. All das würde das Infektionsgeschehen nicht bremsen, sondern möglicherweise zu noch mehr COVID-19-Fällen führen; es würde aber zu einer Begrenzung sogenannter Kollateralschäden beitragen.
Allein: Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat In einem Interview mit der „Kleinen Zeitung“ unterstrichen, dass keine solche Kursänderung geplant ist. Im Gegenteil: Kurz bedauert, dass es ihm nicht gelungen ist, schön früher einen zweiten, harten Lockdown durchzusetzen; und er bereitet darauf vor, dass es über das Ende des harten Lockdowns am 6. Dezember hinaus schmerzliche Beschränkungen geben wird.
Was nicht heißt, dass Kurz dem, was Schüssel in der Süddeutschen geschrieben hat, widersprechen würde; oder dass es Schüssel darum gegangen wäre, Regierungskritik zu üben: Schüssels Text hatte ausschließlich das Ziel, einem baldigen Start in die Wintersaison das Wort zu reden, wie’s allein dafür passt.
Das ist eine Offenbarung: Selbst wenn man berücksichtigt, wie groß und wichtig der BIP-Beitrag der Skigebiete im weitesten Sinne ist, muss man sich über die Beliebigkeit dieser Argumentation wundern. Für die Stadt-Hotellerie, also Wien, ist sie bisher nicht einmal ansatzweise eingesetzt worden. Ganz zu schweigen vom Kunst- und Kulturbetrieb, von dem erhebliche, auch immaterielle Werte ausgehen. Hier gilt absoluter Nachrang gegenüber der Pandemie-Bekämpfung.
Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) unterstreicht das dann auch noch in einem Spiegel-Interview: Sie, die im Frühjahr bei vergleichsweise wenigen Fällen alle Parks zusperren ließ, teilt mit, dass sie keine Angst davor habe, sich beim „Skivergnügen“ zu infizieren. Das ist fast schon wieder ein bisschen komisch.
Die Schweiz ist in der Pandemie nicht in allem ein Vorbild, aber zumindest in diesem Punkt: Sie hat sich vor Beginn der zweiten Welle eine Strategie zurechtgelegt und bleibt auch dabei. Sie enthält im Grunde genommen genau das vorangestellt, was Schüssel allein für den Wintertourismus fordert: „Das oberste Ziel besteht darin, menschliche Opfer (schwere Krankheitsfälle und Todesfälle) zu verhindern und den wirtschaftlichen Schaden tief zu halten“, heißt es in den „Strategischen Grundlagen“ von Bund und Kantonen. Ein flächendeckender Lockdown sollte und konnte in diesem Sinne vermieden werden; es kam nur dort zu einem Lockdown, wo es notwendig erschien (zuletzt etwa in Basel-Stadt).
Im Übrigen enthalten die Grundlagen Bekenntnisse zu offenen Schulen genauso wie zu Wintertourismus. Zitat: „Aus mehreren Gründen (Recht der Kinder auf Bildung, Auswirkungen auf die Eltern und ihre Arbeitsfähigkeit, begrenzter Einfluss auf die Ausbreitung, Schutz von Kindern und Jugendlichen) ist vom Verzicht auf Präsenzunterricht (Vollbetrieb) in der obligatorischen Schule und in Sonderschulen möglichst lange abzusehen.“ Und: „Eine abgesprochene und koordinierte Haltung in den Wintersportorten ist zu fördern. Diese sollte Sport, Hotellerie und Gastronomie zulassen und gleichzeitig die Übertragung durch strikte Schutzkonzepte und angemessene Einschränkungen bei sozialen Aktivitäten (Beschränkung der Gelegenheiten und der Anzahl Kontakte) verhindern.“
dieSubstanz.at spricht Sie an? Unterstützen Sie dieSubstanz.at >