ANALYSE. Von Mahrer über Nepp bis Nehammer: Politische Agitation ist nicht dazu angetan, Vertrauen zu erwecken. Im Gegenteil.
Am 18. Juni, einem Sonntag, wurde am späten Vormittag bekannt, dass es Sicherheitskräften gelungen sei, einen möglichen Anschlag auf die Regenbogenparade, die am Vortag in Wien stattgefunden hatte, zu verhindern. Über zwei Jugendliche wurde schließlich die U-Haft verhängt. Das Landesgericht St. Pölten leistete damit einem Antrag der Staatsanwaltschaft St. Pölten Folge. Ein 20-Jähriger, der ebenfalls verhaftet worden war, wurde hingegen wieder auf freien Fuß gesetzt. St. Pölten, St. Pölten?
An jenem Sonntag um 12.06 Uhr veröffentlichte ÖVP-Wien-Chef Karl Mahrer über den Originaltextservice der Austria Presseagentur eine Mitteilung: „Die Wiener SPÖ hat Jahrzehnte weggeschaut und die Integration aufgegeben. Vielfalt und ein buntes Wien wurden als Ausrede genutzt. Bunt ist es jedoch in Teilen von Favoriten, Ottakring und Rudolfsheim-Fünfhaus schon lange nicht mehr. Ethnische Communities schotten sich von der Mehrheitsgesellschaft ab. Und genau dort wird den Extremisten Tür und Tor für ihre fundamentalistischen Phantasien geöffnet. Dort können Sie ungestört rekrutieren und ihre Botschaften verbreiten. Nicht zufällig leben die Menschen in diesen abgeschotteten Communitys mitten in Wien einen sehr religiös-politischen Islamismus.“
SPÖ-Wien? Die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft St. Pölten kommt nicht irgendwoher. Sie ist darauf zurückzuführen, dass zwei der drei ursprünglich verhafteten Jugendlichen, die sich online radikalisiert haben sollen, in der niederösterreichischen Landeshauptstadt wohnen. Der dritte Mann, ein 14-Jähriger, lebt in Wien.
FPÖ-Wien-Chef Dominik Nepp äußerte sich an jenem Sonntag ähnlich entlarvend wie Mahrer: „Die linken Gutmenschen schaufeln sich ihr eigenes Grab“, schrieb er auf Twitter. Die türkis-blaue Message soll wohl lauten: Sozialdemokratische Migrations- und Integrationspolitik ermöglicht eine Radikalisierung, mit der auch Terroranschläge einhergehen könn(t)en.
Das richtet sich von selbst: Nicht nur, weil es ganz offensichtlich auch außerhalb der Bundeshauptstadt, zum Beispiel in ÖVP-geführten Bundesländern, potenzielle Gefährder gibt. Für Migration zuständig ist abgesehen davon in der Regierung seit 23 Jahren kein Sozialdemokrat mehr; der letzte war Karl Schlögl. Dann folgten meist ÖVP-Politiker:innen (wie Johanna Mikl-Leitner), zwischendurch aber auch ein bekannter Vertreter der Freiheitlichen (Herbert Kickl). Die bisherigen Integrationsminister hießen bzw. heißen Sebastian Kurz und Susanne Raab (beide ÖVP). Natürlich: Praktische Integration geschieht auf kommunaler Ebene. So zu tun, als sei alles Versagen ausschließlich sozialdemokratisch, ist jedoch vollkommen daneben.
Das Problem ist zunehmend, dass das um jeden Preis so dargestellt werden soll; dass man schon nicht mehr weiß, ob nun in einem konkreten Fall wirklich eine Radikalisierung stattfindet oder nur der Eindruck erweckt werden soll.
Vor bald drei Jahren inszenierte der heutige Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) eine „Operation Luxor“. Es handelte sich um „die größte Polizeiaktion der letzten Jahrzehnte“ (profil), Gerichtet war sie gegen angebliche Mitglieder der Muslimbruderschaft. Das Ergebnis stellte der „Standard“ heuer im Jänner so dar: „Allein die blanken Zahlen sind verheerend: 106 Beschuldigte, 31 Einstellungen, keine Anklage, niemand kam je in Haft. Was Karl Nehammer als türkiser Innenminister sieben Tage nach dem jihadistischen Terroranschlag im November 2020 in der Wiener Innenstadt noch als großen Schlag gegen den politischen Islam inszeniert hatte, wirkt mehr als zwei Jahre später wie ein fataler Irrtum.“
Auf der anderen Seite gab es eben diesen Anschlag vom November 2020, der zeigt, dass man nichts ausschließen kann. Parteipolitisch motivierte Agitation schürt jedoch Zweifel.
Gab es nun im Zusammenhang mit der Pride-Parade wirklich Pläne, die ernst zu nehmen sind? dieSubstanz.at kann das nicht beurteilen. Der „Kurier“ zitiert den Anwalt des 14-Jährigen damit, dass die Parade im U-Haft-Beschluss nicht vorkomme. Auch beim 17-Jährigen sei sie nur am Rande ein Thema. Der Beschluss verweise in erster Linie auf Chats in einer radikalen Telegram-Gruppe.