Abschied von der Mitte

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ANALYSE. Die ÖVP gibt wachsende Teile der Gesellschaft verloren, bei denen Leistung nicht mehr ausreicht, um zu Eigentum zu kommen. Kickl freut’s.

Bundeskanzler ÖVP-Chef Karl Nehammer mag es nicht sehen oder sieht es nicht. Für ihn ist das Teuerungs- vor allem ein Verarmungsproblem, das Betroffene wiederum dadurch lösen können, dass sie arbeiten und leisten. Das ist jedenfalls der Eindruck, den er in einem ZIB2-Interview hinterlassen hat.

In Wirklichkeit ist das Ganze vielschichtiger: Fast alle haben aufgrund der Teuerung gefühlt oder tatsächlich weniger. Bei denen, die schon bisher wenig hatten, ist das bedrohlich. In Summe ist ein hoher Wohlstand, jedenfalls aber ein Wohlbefinden gefährdet. Das ist für sich genommen schon genug, damit es zu sozialen und politischen Verwerfungen kommen kann.

Im ÖVP-Grundsatzprogramm heißt es, Arbeit und Sparen müsse sich lohnen. Sozialer Aufstieg, Chancengleichheit und der Erwerb von Eigentum solle gefördert werden. Eigentum sei der Schlüssel für Unabhängigkeit und Wirtschaftskraft: „Unser Ziel ist ein starker und breiter Mittelstand in der Gesellschaft.“ Hätte Nehammer das beherzigt und würde er wahrnehmen, dass es parallel zur aktuellen Teuerung ein Problem gibt, das diese Sätze aus der Zeit fallen lässt, würde er anders reden.

Konkret: Immobilienpreise steigen seit Jahren. Jetzt haben sich auch die Zinsen vervielfacht. In Summe kann sich ein fleißiger Mensch mit Familie und einem gewöhnlichen Job, aber ohne Erbe, in einer prosperierenden Gegend keine Eigentumswohnung und schon gar kein Haus mehr leisten. Leistung lohnt sich nicht mehr, lautet eine Erkenntnis für ihn. Und ein anderer, der Pech hat, hat er vor zwei Jahren eine Finanzierungsvariante gewählt, die ihm jetzt aus dem Ruder gelaufen ist.

Natürlich: An dieser Stelle könnte man sagen, die Zinsen seien in der Geschichte schon höher gewesen und ein Haus sei vor 50 Jahre auch nicht billig gewesen für einen Arbeiter. Stimmt. Abgesehen davon: Man kann auch ohne Eigentum glücklich sein. Das übersieht jedoch, dass es jetzt nach einer langen Phase des Fortschrittes mehr und mehr zu Rückschritten kommt. Lange ist Eigentum für immer mehr Menschen erschwinglich geworden. Jetzt wird es das zunehmend für weniger und weniger. Zweitens: Eigentum ist für viele noch immer ein erstrebenswertes Ideal. Also werden sie enttäuscht oder verbittert sein, wenn sie es nicht erreichen können.

Eine Partei wie die ÖVP muss vor diesem Hintergrund zwar nicht zusperren. Mit einem Mann wie Nehammer, der das Problem des Mittelstandes nicht sieht, wird sie aber naturgemäß kleiner. Zumal genau die Leute, die eine Verschlechterung für sich befürchten oder wahrnehmen, so nur eine Option sehen auf politischer Ebene: die FPÖ.

Sie erlebt wieder eine Hochphase als Partei eines verlierenden Teils der Mittelsicht. Darauf lassen etwa SORA-Befragungen zu den jüngsten vier Landtagswahlen schließen: Den größten Zuspruch nach formalem Bildungsstand erfuhren Freiheitliche nicht bei denen, die maximal über einen Pflichtschulabschluss verfügen, sondern bei Lehrabsolventen, also Facharbeitern und Angestellten.

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