ANALYSE. Flüchtlingspolitik: Auch die jüngsten Entwicklungen in Afghanistan bringen die ÖVP nicht dazu, ihren Kurs zu revidieren. Sie bleibt lieber Getriebene ihrer selbst. Um jeden Preis.
Schwacher Trost für Innenminister Karl Nehammer (ÖVP): Nachdem sich selbst US-Präsident Joe Biden (dramatisch) geirrt hat mit seiner Einschätzung vom Juli, wonach es „unwahrscheinlich“ sei, dass Afghanistan von radikalislamistischen Taliban-Truppen überrannt wird, hat derlei auch ihm passieren dürfen. Bei ihm kommt jedoch dazu, dass sich die Realitätsverweigerung bis zur letzten Minute erstreckte, allein im Sinne türkiser Flüchtlingspolitik war; und dass die Fortsetzung mehr denn je signalisiert, dass die ÖVP dabei bleiben möchte – um wirklich jeden Preis.
Wobei man anmerken könnte, dass dieses „Wollen“ durchaus relativ ist: Wie SORA-Wahlanalysen unterstreichen, hat die neue Volkspartei von Sebastian Kurz 2017 und 2019 nicht irgendwie gewonnen. Sondern vor allem auch durch ihre Flüchtlingspolitik, die darauf hinauslief, pauschal nur von „illegaler Migration“ zu reden, die abzuwehren ist; die ihre Bestätigung in Mordfällen wie jenem fand, dem die 13-jährige Leonie zum Opfer fiel; die aber eben nicht bereit war und ist, zu differenzieren.
In diesem Sinne verkündete Karl Nehammer genau an jenem Wochenende, an dem letzten Endes auch Kabul fiel, in der „Kronen Zeitung“, man müsse so lange abschieben, wie es geht. Ja, in Kooperation mit Afghanistan werde derzeit an einem Flug gearbeitet. Abgesehen davon, dass Zweifel daran angebracht sind, dass sich eine afghanische Regierung in den letzten Zügen mit solchen Problemen beschäftigte; zumal die afghanische Botschafterin in Wien, Manizha Bakhtari, bereits eine Woche zuvor gewarnt hatte, dass „das Leben der Abgeschobenen auf dem Spiel steht“ (und dafür sogar von Alexander Schallenberg, ÖVP, ins Außenamt zitiert wurde), war natürlich klar, dass das nicht mehr realisierbar ist. Selbst die „Krone“ titelte folglich, dass die ÖVP „an Symbolpolitik“ festhalte.
Warum? Nehmmer sprach in der Zeitung von einem notwendigen „Signal an die organisierte Kriminalität“. In Wirklichkeit handelte es sich viel mehr um ein Signal an die Wählerinnen und Wähler: Die ÖVP ist vor allem mit ehemaligen FPÖ-Anhängerinnen und -Anhängern groß geworden. Und um diese nicht im Ansatz zu irritieren, ist sie bereit, ans Äußerste zu gehen.
So wenig die Taliban (alles andere als überraschend) den Appell von Außenminister Alexander Schallenberg vom Samstag hörten, „an den Verhandlungstisch zurückzukehren“, so absurd Nehammers Überlegungen waren, selbst einen Abschiebeflug nach Kabul zu organisieren, so weit daneben ist jetzt erst recht das türkise Gerede von ausschließlich illegaler Migration und organisiserter Kriminalität.
Jetzt geht es mehr denn je um Menschenleben und Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention. Flüchtling ist demnach, wer „wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung“ verfolgt wird. Unter Taliban-Herrschaft geschieht das unendlich oft.
In Deutschland haben Medienhäuser in Erwartung dessen bereits einen noch nie dagewesenen Aufruf an die Regierung vorgenommenen, wie die „Zeit“ berichtet: „In einem dringenden Appell wenden sich Verlage, Redaktionen, Sender und Medienhäuser an die Bundeskanzlerin und den Außenminister, um das Leben ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Afghanistan zu retten. Sie fordern in diesen Stunden, die nicht an Dramatik zu überbieten sind, ein Visa-Notprogramm für Übersetzerinnen und Übersetzer, Producerinnen und Stringer, die angesichts des Vormarsches der Taliban Verhaftung, Folter und Exekution fürchten.“
Schallenberg und Nehammer ist das alles natürlich bewusst. Sie haben ihre Symbolpolitik daher ausgeweitet und am Wochenende auch eine internationale Afghanistan-Konferenz für Ende August oder Anfang September angekündigt. Ziel: Hilfe vor Ort. Das also, was Österreich bisher vernachlässigt hat, wie etwa die beschämenden UNHCR-Beiträge zeigen.
Es ist bezeichnend, dass man „vor Ort“, wo es um handfeste Politik geht, ganz offensichtlich schon viel konkreter und auch viel weiter war und ist: „Wir haben schon vor zwei Monaten mit einer neuen Flüchtlingswelle aus Afghanistan gerechnet und daher schon damals mit der Einrichtung von provisorischen Pufferzonen an den drei Grenzübergängen begonnen“, berichtete etwa ein Sprecher des iranischen Innenministeriums am Sonntag.
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