ANALYSE. In Tirol hat die ÖVP zu wenig verloren, um zu erkennen, dass sie sich bundesweit erneuern muss. Das ist schlecht für die gesamte Politik.
Vor der Wahl stand hier, dass die ÖVP für die Wahlniederlage in Tirol vorgesorgt und die Erwartungen auf ein kleinstmögliches Niveau gedrückt hat. Dabei geholfen haben ihr haarsträubende Umfragen, die sie bei 25 Prozent auswiesen (was endlich auch zu Qualitätskriterien für Erhebungen durch Meinungsforschungsinstitute sowie Veröffentlichungen durch Medien führen sollte – das ist eine beiderseitige Bringschuld, die offen ist).
25 Prozent hätten ein Minus von fast 20 Prozentpunkten bedeutet. Geworden ist es ein Minus von fast zehn Prozentpunkten. Ohne Kenntnis besagter Umfragen würde man von einem Debakel sprechen. Es ist aber eben anders: Die Tiroler Volkspartei freut sich darüber, ein überraschend gutes Wahlergebnis erzielt zu haben; und Anton Mattle, ihr Spitzenkandidat, der den undankbaren Job übernommen hat, Günther Platter kurzfristig nachzufolgen, wird als Star gefeiert. Wobei: Mattle verkörpert einen Widerspruch zu einem verbreiteten Politikertyp, der mehr vorgibt als er ist; der Paznauntaler ist eher, wie er ist – und vielleicht schätzen genau das sehr viele Menschen. Auffallend ist jedenfalls, dass seine Volkspartei aus der Nicht-Wähler-Gruppe mehr Stimmen gewonnen als dorthin verloren hat. In Anbetracht des Gesamtergebnisses (fast minus zehn Prozentpunkte) überrascht das.
Es ändert aber eben nichts daran: Die ÖVP redet sich eine Niederlage nicht nur nach außen hin schön, sondern glaubt wirklich, ganz gut davongekommen zu sein. Damit bleibt sie dabei, sich nicht zu erneuern. Trotz all der Denkzettel, die sie in den vergangenen Jahrzehnten in Tirol schon erlitten hat: 2008 hat sich „ihr“ damaliger AK-Präsident Fritz Dinkhauser verabschiedet und sich mit der sozialpolitisch orientierten Liste Fritz selbstständig gemacht. 2013 gründeten unter anderem ihre Ex-Landesrätin Anna Hosp und die Innsbrucker Bürgermeisterin Christine Oppitz-Plörer eine durchaus auch wirtschaftsorientierte Liste (Vorwärts Tirol). Und zwar mit der Begründung, dass „seitens der ÖVP kein Erneuerungswille erkennbar“ sei.
Nicht einmal Wahlerfolge der beiden Listen haben die ÖVP dazu gebracht, sich groß zu verändern. Wie bei Ischgl setzte sich eine „Wir haben alles richtig gemacht“-Mentalität fort. Oder wie es der Nationalratsabgeordnete Franz Hörl vor wenigen Tagen unfreiwillig deutlich zum Ausdruck gebracht hat: „Uns gehört die TIWAG, uns gehört die Wohnbauförderung, uns gehört die Hypobank“ – sprich, der ÖVP kann nichts passieren.
Sie will nicht wahrhaben, dass sie bei Landtagswahlen der jüngeren Vergangenheit verloren hat. Mit einer Ausnahme. 2018 hat sie zugelegt. Auch dabei hat sie sich jedoch etwas vorgemacht: Es war nicht ihr Verdienst, geschweige denn der von Günther Platter; es war vor allem ein „Sebastian Kurz-Effekt“, von dem sie nicht nur profitierte, sondern durch den sie sich eben auch berauschen ließ.
Das ist nicht nur ein Problem der Tiroler ÖVP. Vor dem Arlberg (etwa) ist es ähnlich. In Vertretung des damals im Krankenstand befindlichen Landeshauptmannes Markus Wallner kündigte Landesrätin Martina Rüscher als quasi geschäftsführende Obfrau als Konsequenz aus der Wirtschaftsbund-Affäre eine inhaltliche wie organisatorische Erneuerung der Vorarlberger ÖVP an. Damit hat sie böse Kritik von sogenannten Parteifreunden geerntet. In Sicht ist nun nichts. Dabei würde bei einer Landtagswahl heute ein ähnliches Ergebnis drohen wie in Tirol.
Das ist ein Problem, das alle tangiert: Auf Bundesebene hat sich die Bundes-ÖVP bis heute keine Gedanken gemacht, wie sie sich nach dem Abgang von Sebastian Kurz ausrichten sollte. Es wäre unerlässlich: Kurz war ihr Alles, ihr Gesicht, ihre Message etc. Dadurch, dass die Tiroler nun keine 20 Prozentpunkte verloren haben, wird das auch jetzt kaum angegangen werden. Die Tageszeitung „Die Presse“ titelte nach der Wahl: „Kurze Atempause für Nehammer“. Das kann zugespitzt formuliert auch so verstanden werden, dass er gestärkt ist – und mit ihm die Partei.
Bei einer solchen Wahrnehmung droht ein Schrecken ohne Ende: Als entscheidender Teil der Bundesregierung wurstelt sich die ÖVP mit den Grünen, die (auch in Tirol) ebenfalls leiden, weiter irgendwie durch; und das ausgerechnet in so schwierigen Zeiten. Zweitens: Wenn’s in Niederösterreich, wo Anfang 2023 gewählt wird, schlecht läuft, wird Johanna Mikl-Leitner unangenehm; sonst, wenn sich die Verhältnisse auch dort schönreden lassen, läuft es für die Partei weiter irgendwie weiter.