Neutralität bloß im Herzen

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ANALYSE. In Europa herrscht Krieg, doch Österreich pfeift weiterhin auf seine Sicherheit. Die Debattenverweigerung großer Teile der Politik wird zunehmend bedrohlich.

Die Neutralität könne nur dann zur Sicherheit Österreichs beitragen, wenn sie gemeinsam mit der Integrität des Staatsgebietes von allen Seiten akzeptiert und respektiert werde. Am Beispiel der Ukraine sehe man, was passiere, wenn eine solche Integrität nicht respektiert werde und ein Land bei seiner Verteidigung auf sich allein gestellt sei: „Aus diesem Grunde muss über die österreichische Neutralität ernsthaft diskutiert werden.“

Der Mann, der dies sagt, hat damit offenbar eine rote Linie überschritten. Zumindest, wenn es nach der SPÖ-Abgeordneten Julia Herr geht. „Österreichs Neutralität ist nicht in Frage zu stellen!“, hat sie auf Twitter festgestellt. Auch Daniel Kosak, Sprecher von Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP), findet das abwegig: Er sei bemerkenswert, wie viele „an den Wünschen der Österreicher vorbeidiskutieren“ würden. Wünsche der Österreicher? Laut Verteidigungsministerin Claudia Tanner (ÖVP) liegt ihnen die Neutralität nicht nur am, sondern „im Herzen“. Was möglicherweise damit zu tun hat, dass ihnen nichts Rationales geliefert wird. Doch das ist eine andere Geschichte.

Die Ausführungen aus dem ersten Absatz stammen von ÖVP-Wehrsprecher Friedrich Ofenauer. Anfang März brachte er – nach Vorlage von Andreas Khol -, zum Ausdruck, was er sich denkt. Und zwar extra im Rahmen einer Aussendung, damit es von möglichst vielen wahrgenommen wird. Wäre es eine Kategorie, könnte man ihm dankbar sein: Wenigstens einer, der Politik machen will.

Seit Jahrzehnten ist die Gegensätzlichkeit zwischen einer Problemstellung und der politischen Ambitionslosigkeit nicht mehr so deutlich geworden wie heute im Lichte des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Offensichtlich ist, dass damit die Vorstellung von immerwährender Stabilität und Sicherheit in Europa zu Ende gegangen ist. Finnland und Schweden haben die Konsequenz für sich bereits gezogen; sie wollen der Nato beitreten.

Und Österreich? Hier geht es nicht darum, dass man der Nato beitreten muss. Sondern um eine Mischung aus Realitätsverweigerung, Feigheit und Lüge. Wer, wie Nehammer (oder auch SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner und FPÖ-Obmann Herbert Kickl), an der Neutralität festhalten möchte, muss dies glaubwürdig tun. Es bedeutet, dass die eigene Wehrhaftigkeit – weil auf sich allein gestellt – mit umso größeren Mitteln hergestellt werden muss. Genau das ist schließlich untrennbar wie ausdrücklich mit dem Neutralitätsgesetz verbunden.

Das Schlimme ist jedoch, dass man die Neutralität zu einem Luftschloss verkommen lassen hat und nicht einmal jetzt bereit ist, das zu ändern. Im Grunde genommen ist das Gesetzesbruch. Es widerspricht den Pflichten, die mit der Neutralität einhergehen.

Anfang März hat Nehammer einmal eine Aufstockung des Verteidigungsbudgets angekündigt; später hat Tanner noch mehr in Aussicht gestellt – es ist bis heute jedoch nichts konkretisiert worden, ja nicht einmal irgendeine Erhöhung in der jüngsten Budgetvorschau bis 2025 berücksichtigt worden. Das passt zum Luftschloss.

Es findet nicht einmal eine öffentliche Auseinandersetzung darüber statt, ob mehr Panzer, Flugzeuge oder was auch immer nötig sein könnten. Experten reden darüber, es handelt sich jedoch um eine hochpolitische Frage und damit auch um eine, die breit erörtert werden muss. Immerhin könnte damit auch eine Ausweitung der Wehrpflicht, jedenfalls aber eben eine beträchtliche Budgetaufstockung (Steuergeld!) einhergehen.

Es wäre spannend, zu sehen, ob dann noch immer eine deutliche Mehrheit der Österreicher für die Neutralität ist. Wobei man natürlich sagen könnte: Wir bleiben neutral und verzichten auf eine bewaffnete Truppe; was im Gesetz steht, spielt keine Rolle. In diesem Sinne könnte man auf Nehammer verweisen, der laut Standard von einem EU-Gipfel vor einigen Wochen die Erkenntnis mitgenommen haben will, dass uns EU-Partner in der Nato im Falle des Falles ohnehin mitverteidigen würden. Das wäre jedoch unsolidarisch: Man würde, um es brutal zu formulieren, den Blutzoll anderen überlassen. Alternativ könnte man auch sagen: Österreich geht davon aus, nie angegriffen zu werden. Und wenn, dann ergibt es sich, weil es keinen Krieg führen will. Ganz egal, ob es die Aufgabe von Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Demokratie bedeuten würde oder nicht. Schlichte Existenz ist wichtiger.

Selbstverständlich könnte all das durch eine entsprechende Außen- und Sicherheitspolitik unterlegt werden. Ob das im Rahmen der EU, die unter anderem militärische Hilfe für die Ukraine leistet, möglich ist, ist jedoch fraglich (auch wenn sich Österreich „nur“ durch eine konstruktive Enthaltung daran beteiligt). Allerdings: „Schalli“, wie Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) vom Bundeskanzler der Republik liebevoll, aber halt auch ein bisschen despektierlich genannt wird, liefert nichts Erkennbares dazu.

Es ist ein Dilemma, bei dem man ansteht. Zumal eben keine Debatte geführt werden will, die vielleicht auch neue und ganz anderen Wege aufzeigen könnte. Diese Verweigerung ist die übelste Antwort auf die Herausforderungen, die anstehen. Und sie wird sich letzten Endes auch rächen: Einer Mehrheit der Bevölkerung ist die Neutralität lieb; eine noch viel größere will keinen Krieg. Eine Mehrheit ahnt aber auch, mit welchem Unernst Politik hier vorgeht und was, selbst wenn’s wehtut, vernünftig sein könnte. Die Leute werden ja nur für dumm verkauft. Das bedeutet nicht, dass sie es sind.

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