ANALYSE. Der Bundespräsident ist viel zu schweigsam geworden: Wachsende Teile der Gesellschaft sind verunsichert, die Regierung hat keine Antwort darauf. Jetzt wäre er gefordert.
FPÖ-Chef Herbert Kickl hat ein Gespür für Botschaften, die wirkungsvoll sein könnten: „Holen wir uns unser Österreich zurück“, beispielsweise. Parteikandidat Walter Rosenkranz zieht damit in die Bundespräsidenten-Wahl. Der Slogan bedeute, sich Freiheit, Wohlstand und Neutralität zurückzuholen, erklärt er. Es beziehe sich auf Coronamaßnahmen einerseits sowie den Umgang mit dem Ukraine-Krieg, die Sanktionen gegen Russland und die Teuerung andererseits. Man sollte nicht unterschätzen, wie sehr das möglicherweise verfängt.
Ein Hinweis darauf ist die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP). Sie muss aufgrund der Stimmungslage in der Bevölkerung und im Hinblick auf die Landtagswahl, der sie sich bis Anfang 2023 zu stellen hat, in Panik geraten sein, dass sie ihrem „Parteifreund“, Kanzler Karl Nehammer öffentlich ausrichtete, dass es eine klare Führung in der Regierung brauche; und dass sie – im Unterschied zu ihm – einen Energiepreisdeck forderte. Mikl-Leitner wusste sich offenbar nicht mehr anders zu helfen, als auf Distanz zu gehen.
Im erweiterten Sinne zu dieser Bundespolitik gehört Alexander Van der Bellen. Das liegt zunächst einmal in der Natur der Sache: Als Staatsoberhaupt hat er beschränkte Möglichkeiten; in der Regel ist er auf das Einvernehmen mit der Regierung angewiesen. Darüber wird gerne hinweggetäuscht. Auch von Präsidentschaftskandidaten, die vorgeben, im Falle ihrer Wahl aufzuräumen. Was geht, setzt große Kunst voraus: Auf die Regierung einwirken, notwendig Erscheinendes zu tun. Und zu reden. Und zwar öffentlich.
So wenig, wie sich der Bundespräsident um konkrete Pandemiebekämpfung kümmern kann, so wenig kann er Energiepreise senken. Wenn eine Regierung in den Augen von mehr und mehr Menschen jedoch auslässt; und wenn das auch noch von einer Landeshauptfrau bestätigt wird, dann darf er nicht schweigen. Immerhin ist das ein Stück weit auch seine Regierung, er hat die Mitglieder – unter anderem zwar aufgrund der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse zu ihren Gunsten, aber doch – ernannt und angelobt. Und immerhin dürfen die vielen Bürgerinnen und Bürger, die ihn direkt gewählt haben, erwarten, dass alles unternommen wird, damit die gesamte Gesellschaft bestmöglich durch schwere Zeiten kommt.
Diesbezüglich ist Van der Bellen zu zurückhaltend. Man kann nur rätseln: Befürchtet er, sich in absehbarer Zeit noch sehr oft zu Wort melden zu müssen, sodass „Sparsamkeit“ geboten ist, um nicht inflationär zu werden? Das wäre noch ein bisschen nachvollziehbar. Schlimmer wäre es, er würde jetzt schweigen, weil ihm jede Silbe als Wahlkampf ausgelegt werden würde. Oder weil er für eine Wiederwahl Anfang Oktober Türkise und Grüne bzw. deren Anhänger schonen möchte.
So oder so entsteht ein Risiko, auch für Van der Bellen: Eine überforderte Regierung und ein schweigender Präsident vergrößern das Potenzial für Präsidentschaftskandidaten wie Walter Rosenkranz und letztlich auch für Herbert Kickl. Weil von politischen Entscheidungsträgern nicht einmal mehr erklärt wird, warum Preise steigen, wächst der Zuspruch für jene, die einfache „Wahrheiten“ präsentieren, den Krieg zu einer bilateralen Angelegenheit zwischen Russland und der Ukraine herabstufen und die Sanktionen gleich heute beseitigen würden. Kickl scheint die Absicht zu haben, sich im Herbst an die Spitze einer solchen Protestbewegung auf der Straße zu stellen und vielleicht auch ein Volksbegehren durchzuführen. Es würde Van der Bellen sehr wahrscheinlich nicht die Wiederwahl kosten, könnte aber auf ein ernüchterndes Ergebnis hinauslaufen; sowie zu Spannungen führen, die größer sind als bei Corona, und irgendwann auch auf einen Triumpf von Herbert Kickl.
Zu Beginn der Pandemie hielt Van der Bellen Reden, die jetzt gefragt wären. Es waren Mutmacher für nicht wenige Menschen und Hinweise, dass man die Herausforderungen gemeinsam bewältigen werde; insofern handelte es sich auch um Beiträge zur Wahrung des sozialen Friedens, wie sie wieder nötig wären.
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