ANALYSE. Weitere Strafverschärfungen: So deutlich ist die Selbstaufgabe der Politik noch nie gewesen. Selbst der zuständige Minister spielt keine Rolle mehr.
Man könnte glauben, die Justizkapitel in den Regierungsprogrammen der letzten 20 Jahre seien kopiert worden: 2000 hieß es, insbesondere bei Sexualstraftätern solle es zu keiner Diversion mehr kommen können. 2002 folgte die nächste Verschärfung: „Reform des Sexualstrafrechtes, insbesondere Verschärfung der Strafbestimmungen gegen Kinderpornographie und Schaffung eines Straftatbestandes der sexuellen Belästigung.“ 2008 wurde eine Verschärfung der etwas komplexeren Art angekündigt: „Im Bereich des materiellen Strafrechts wird die Stimmigkeit des Systems der Strafrahmen angezweifelt“, hieß es damals. Und: „Eine umfassende Überprüfung soll den Bedarf einer Anpassung ermitteln, wobei die Richtschnur sein muss, dem besonderen Gewicht von Gewalttaten (Leib und Leben, Freiheit und sexuelle Selbstbestimmung) im Vergleich zur Verletzung anderer Rechte besser Ausdruck zu geben, ohne dadurch zu einer Verharmlosung der Vermögensdelikte zu führen.“ 2013 wurde einmal mehr eine Überprüfung der „Verhältnismäßigkeit der Strafen insbesondere zwischen Vermögensdelikten und Delikten gegen Leib und Leben sowie sexuelle Integrität“ in Aussicht gestellt. Und 2017 wurde gleich ohne Umschweife eine „weitere Strafverschärfung bei Gewalt- und Sexualdelikten“ angekündigt. Nur 2006 war’s anders; im rot-schwarzen Programm von damals sucht man diesen Punkt vergeblich.
Wer so oft „Verschärfung!“ ruft, hat’s mit der Glaubwürdigkeit.
Summa summarum lässt all das Zweifel an der Justizpolitik aufkommen: Wer so oft „Verschärfung!“ ruft, hat’s mit der Glaubwürdigkeit. Entweder handelt es sich um Ankündigungen, die nicht umgesetzt werden; oder sie werden in Unkenntnis der Probleme, die dahinterstehen, nur unzureichend vorgenommen. Wahrscheinlicher jedoch ist eine viel schlimmere Möglichkeit: Die Politik macht nicht, was sie auf Basis grundsätzlicher Überzeugungen für vernünftig hält. Sie lässt sich vielmehr treiben und zwingt sich damit selbst, regelmäßig nachzuschärfen. Zum Ausdruck kommt das selbstgemachte Dilemma im gegenwärtigen Regierungsprogramm, in dem es wörtlich heißt: „Die Relation der Strafdrohungen für Vermögensdelikte einerseits und für Delikte gegen die körperliche Unversehrtheit sowie Sexualdelikte andererseits wird in unserer Gesellschaft als nicht mehr zeitgemäß empfunden und kritisiert.“
So gesehen könnte man auch Kickl bei seinem Vorhaben unterstützen, die EMRK auszuhebeln.
Das ist eine gefährliche Argumentation. So gesehen könnte man auch Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) bei seinem Vorhaben unterstützen, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) auszuhebeln: Gut möglich jedenfalls, dass eine Mehrheit findet, dass man einen Schwerverbrecher selbstverständlich auch in ein Land abschieben darf, in dem ihm Folter und Hinrichtung drohen.
Doch zurück zur jüngsten Strafrechtsverschärfung für Sexualverbrechen. Die Expertenkommission, die die Regierung eingesetzt hat, bezweifelt die Sinnhaftigkeit wesentlicher Teile. Das kann man unterstützen oder auch nicht. Bemerkenswert ist, dass der gesamte Prozess von Innen-Staatssekretärin Karoline Edtstadler (ÖVP) geführt wird. Sie tritt de facto auch allein öffentlich zum Thema auf. Das wäre etwa so, als würde Verteidigungsminister Mario Kunasek (FPÖ) eine Reform der vorschulischen Bildung betreiben. Das wäre die Aufgabe von Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP). Beim Strafrecht wäre Justizminister Josef Moser (ÖVP) gefordert. Es lässt jedoch allenfalls wissen, dass er sich eingebunden fühle. Was die Selbstaufgabe der Justizpolitik vollendet.
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