ANALYSE. Stimmt schon, die Koalitionsparteien können kein Interesse an einer Neuwahl haben. Tendenzen, durch die die Zusammenarbeit zu gefährdet werden, nehmen jedoch zu.
Dumm wären Türkise, aber auch Grüne, die Koalition auf Bundesebene aufzukündigen und eine Neuwahl zu riskieren. Abgesehen davon, dass es mehr als genug zu tun gibt, würden sie auf Verluste zusteuern. Die ÖVP mehr, die Grünen weniger. Zusammen halten sie nur noch gut 35 Prozent. Sprich: Beide könnten sich hinterher in Opposition wiederfinden.
Dieser Hinweis hat was, blendet aber aus, dass die missliche Lage Türkis-Grün nicht stärkt, geschweige denn zusammenschweißt, sondern eher sogar gegenteilige Entwicklungen auslösen kann – und es auch tut.
Der prominente Obmann des Tiroler Wirtschaftsbundes, der ÖVP-Nationalratsabgeordnete Franz Hörl, hat am Wochenende tief blicken lassen: Er liebäugelt mit einer Ministeranklage gegen die grüne Klimaschutzministerin Leonore Gewessler. Es geht um ihr Nein zum Wiener Lobautunnel. Hörl schließt sich hier einer Drohung der Wiener Wirtschaftskammer an und meint in der Tiroler Tageszeitung keck: „Die Grünen verlangen immer Aufklärung. Da wollen wir bei Ministerin Gewessler nicht im Weg stehen.“ Eine Ministeranklage würde ja nur den Weg freimachen, um mögliches Fehlverhalten durch den Verfassungsgerichtshof überprüfen zu lassen, meint er. Praktisch würde es sich um einen Koalitionsbruch handeln.
Bemerkenswert bei der ganzen Geschichte ist, dass sich mit Hörl ein Tiroler in dieser Weise exponiert; er ist kein Vertreter der Wiener oder der niederösterreichischen Volkspartei, die unmittelbarer von der Absage an den Lobautunnel betroffen sind. Und dass er in der TT ziemlich klar zum Ausdruck bringt, dass Rache im Spiel ist – nämlich für das Verhalten der Grünen in der Vorarlberger Wirtschaftsbundaffäre; da unterstellt er ihnen sinngemäß, Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) anpatzen zu wollen.
Wie gesagt: Verrückt wären ÖVP, aber auch Grüne, ihre Regierungszusammenarbeit zu beenden. Doch die Fliehkräfte nehmen zu. Zunächst einmal liegt das in der Natur der Sache: Wenn man weiß, dass spätestens 2024 Schluss ist, wird man prüfen, welche Optionen in weiterer Folge möglich sind und sich wohl auch danach ausrichten. Zweitens: Wenn man in Umfragen verliert, wird man beginnen, mehr und mehr das eigene Profil zu schärfen. Und wenn man dann noch weiter verliert, eröffnet man eine Obmanndebatte (das wäre typisch ÖVP). Bei alledem spielt eine entscheidende Rolle, dass sehr, sehr viele Mandatare um ihr politisches Überleben kämpfen. Die meisten unter ihnen werden jedenfalls eines ganz sicher nicht tun: „Hände falten, Goschen halten“, eine Wahlniederlage und einen persönlichen Verlust über sich ergehen lassen, ohne auch nur irgendetwas dagegen unternommen zu haben.
Weil hier schon mehrfach die ÖVP erwähnt wurde: Allein schon, dass der Auftritt von Sebastian Kurz auf dem Bundesparteitag Mitte Mai für solches Aufsehen sorgte und „Comeback“-Spekulationen auch nur für wenige Tage aufkommen ließ, zeigt, wie wenig Karl Nehammer zugetraut wird. Er ist nicht der Mann der Zukunft. Er muss jederzeit damit rechnen, dass Rufe nach einem anderen Obmann laut werden, dem etwas zugetraut wird. Sein einziges Glück ist, dass da für den Moment niemand ist; dass, solange türkise Affären nicht ausgestanden sind, kaum jemand bereit sein wird, eine „neue“ Volkspartei aufzubauen. Wie auch?
Zurück zur Koalition, das Stichwort „Affären“ ist gefallen: Mit jedem U-Ausschuss-Tag, mit jeder neuen Geschichte aus dem Vorarlberger Wirtschaftsbund oder dem ehemaligen türkisen Machtzentrum in Wien wird die Zusammenarbeit der ÖVP mit den Grünen stärker belastet. Wie Hörl zeigt, reicht es schon, dass sich letztere nicht an der Verteidigung beteiligen. Das zu tun wäre in Wirklichkeit natürlich zu viel verlangt von Werner Kogler und Co., damit würden sie sich mit hineinzielen lassen in all die Sümpfe.
Besonders sie müssen an ein Morgen denken. Zumal schon mittelfristig davon auszugehen ist, dass eine weitere Corona-Welle kommt und Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) ein Problem mit der nicht abgeschafften Impfpflicht erhält: Sachlich könnte der Druck auf ihn steigen, sie zu aktivieren, politisch wird das gegen eine unter anderem in Niederösterreich im Wahlkampf stehende ÖVP nicht durchsetzbar sein. Außerdem muss man damit rechnen, dass es mit der Teuerung und den Folgen erst losgeht und damit auch mit widersprüchlichen Lösungsansätzen der beiden Koalitionsparteien, ob zu ökologischen (Energiekrise) oder zu verteilungspolitischen Belangen, und zwar sowohl in Bezug auf Leistungen (z.B. Sozialhilfe) als auch in Bezug auf die Finanzierung. Zitat Rauch im jüngsten „profil“: „Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, über Vermögensbesteuerung zu debattieren.“ Allein: Mit der ÖVP wird das nicht gehen.
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