Teuerung ersetzt Migration

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ANALYSE. Wieder verkennen Regierungsparteien, was eine Masse bewegt. Wieder sind es Freiheitliche, die von Tag zu Tag schriller werden.

Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) habe bei einem Treffen europäischer Christdemokraten gemahnt, neben dem Ukraine-Krieg nicht auf das Thema Migration zu vergessen, berichtet „PULS 24“ gerade. Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) hat vor ein paar Wochen wiederum gemeint, Sozialdemokraten, Freiheitliche und Boulevardmedien würden zum Thema Teuerung „eine Hysterie anzünden“.* Beides lässt tief blicken: Wieder einmal verkennen Regierungsvertreter, was einer Masse zu schaffen macht; bzw. werden sie dem nicht gerecht.

Das Ganze erinnert nicht zufällig an die Flüchtlingskrise und die Jahre ab 2015: Zunächst stand Politik daneben, die öffentliche Meinung kippte. Freiheitliche wurden unter Heinz-Christian Strache zur bestimmenden Kraft: Sie forderten als erste Grenzschließungen. Bei einer Nationalratswahl wären sie klar auf Platz eins gekommen. 2017 reagierte Sebastian Kurz namens der Volkspartei insofern, als er sie im Wesentlichen kopierte und ihnen damit schließlich einen sicher geglaubten Wahlstieg „wegnahm“.

Die Tageszeitung „Der Standard“ hat erheben lassen, was nach Ansicht der Menschen in Österreich am dringlichsten ist. Ergebnis: Eine Neuordnung der Migrationspolitik ist es nicht. Internationale Initiativen für den Frieden sind es nicht. Die Bekämpfung des Klimawandels ist es nicht. Maßnahmen zur Verringerung der Abhängigkeit von Energieimporten sind es auch nicht. Es sind Schritte gegen die Inflation.

Die Teuerung spüren die Leute. Das kann man drehen und wenden, wie man will. Bei vielen mag es zunächst einmal eher nur eine Kopfsache sein, ist doch bei jeder Trankstelle sichtbar, was abgeht. An der Kassa tut es jedoch mehr und mehr körperlich weh.

Darauf muss Politik eingehen. Wie? Sozialdemokraten und Freiheitliche thematisieren es seit dem Winter, fordern umfassende Steuersenkungen. Ob das klug, geschweige denn treffsicher ist, steht auf einem anderen Blatt. Der Punkt ist: Gerade Kogler, auf dessen Konto in der Pandemie die Devise „Koste es, was es wolle“ ging, sollte wissen, dass sich sehr viele Leute jetzt erwarten, dass der Staat dieses Problem löst.

Das kann er nicht oder nur begrenzt. Er müsste jedoch aussprechen, was möglich ist. Und zwar klar und deutlich – und nicht zwischen Tür und Angel. Arbeits- und Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP) war in einem Ö1-„Journal zu Gast“ Mitte Mai beispielsweise nur nebenbei der Hinweis zu entlocken, dass alle ärmer werden dürften. Wer 5000 Euro im Monat verdient und nur einen Teil davon braucht, wird das zur Kenntnis nehmen. Mindestlohnbeziehern könnte das jedoch schlaflose Nächte bereiten. Darauf muss Politik eingehen. Nicht nur in Taten, sondern auch mit Empathie.

Letzteres tut sie gar nicht, ersteres kaum. Preisbeobachtungskommissionen und Arbeitsgruppen für weitere Antiteuerungspakete reichen nicht. Die Forderung von WIFO-Chef Gabriel Felbermayr, Sozialleistungen zu indexieren (also wertzusichern), ohne weiteres vom Tisch zu wischen, wie ÖVP-Generalsekretärin Laura Sachslehner es tut, ist irritierend: Immerhin werden Steuereinnahmen bisher auch ganz selbstverständlich indexiert (Stichwort Kalte Progression); auch bei der Parteienförderung ist eine solche Automatik vorgesehen.

These: Dass die ÖVP nicht nur hinter die SPÖ zurückfällt in der Wählergunst, sondern auch noch hinter die FPÖ abstürzen könnte, hat ebenso mit dem Umgang mit der Teuerung zu tun wie die Tatsache, dass sich die Grünen Sorgen um Platz vier machen müssen. Es ist nicht allein ausschlaggebend dafür, aber sehr wesentlich.

Das wird zunehmend gefährlich. FPÖ-Chef Herbert Kickl hat gerade eine „Volksbefragung über den Teuerungsturbo Embargopolitik“ gefordert. Sprich: Er behauptet, dass man die Preise in den Griff bekommen könnte, wenn man die Sanktionen gegen Russland beseitigen würde. Sollte sich das verfangen, gerät Bundeskanzler Karl Nehammer unter Druck. Zumal seine Partei seit Kurz in einem so hohen Maß von freiheitlicher Wählerklientel abhängig ist. Umso mehr kann man sich wundern darüber, dass er lieber weiter eine harte Migrationspolitik fordert. Das ist jetzt nicht (mehr) das Thema. Es geht um die Teuerung.

* Nachtrag: Vor dem Bundesrat nahm Werner Kogler den Begriff „Hyserie“ am 2. Juni zurück.

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