Kein Marathon-Kanzler

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ANALYSE. Von Angst- zu Hoffnungsmache und retour: Sebastian Kurz schielt zu sehr auf Stimmungen und verstärkt damit nur die allgemeine Verunsicherung in der Pandemie.

Ende März 2020: Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) warnt die Bevölkerung, dass bald jeder jemanden kennen werde, der am Virus gestorben ist. Anfang April: Kurz spricht wörtlich von einer „Wiederauferstehung“ nach Ostern. Dazwischen: Kurz kündigt 15.000 Test pro Tag an, betont immer wieder, man sei bisher gut durch die Krise gekommen. Ersteres ist nach einem halben Jahr noch immer nicht in Erfüllung gegangen, letzteres wird zunehmend zweifelhaft. Ende August: Kurz kündigt zwar einen harten Herbst und Winter an, sieht aber „Licht am Ende des Tunnels“. Anfang September: Kurz spricht „vom Beginn der zweiten Welle“.

Dass all das sprunghaft ist, muss man nicht weiter ausführen; es ist zu offensichtlich. Der 34-Jährige wirkt extrem schlecht beraten. Es gibt offenbar niemanden, der ihm überzeugend darlegt, wie das wirklich ist bei einem Marathon, mit dem er die Pandemie ja auch schon verglichen hat: Zumindest bis Kilometer 40 denkt man gar nicht an den Zieleinlauf, sondern konzentriert sich auf den nächsten Meter. Oder, um in der Welt des Sports zu bleiben: Dominic Thiem berichtete im Ö1-Morgenjournal nach seinem US-Open-Triumph, dass er im fünften Satz den Sieg bereits im Kopf gehabt habe. „Das war aber ein Fehler.“ Sein Gegenüber Alexander Zverev sei noch einmal „zurückgekommen“.

So ähnlich, nur eben ungleich verhängnisvoller, ist es, wenn man mitten in der Pandemie in einer Rede und in Serieninterviews den Leuten verspricht, dass in einem Jahr alles vorbei sein werde (zumindest virologisch). Das ist einerseits ein kleiner Mut-, andererseits aber halt auch ein potenzieller Sorglosmacher.

Diesen „Fehler“ macht Kurz nicht zum ersten Mal. Umso bemerkenswerter ist er: Mit der Warnung vor unendlich vielen Toten hat Sebastian Kurz neben Gehorsam und Disziplin durchaus auch Angst und Panik ausgelöst. So etwas hinterlässt Spuren. Und gerade weil das Schlimmste zum Glück ausgeblieben ist, sollte man vorsichtig werden mit solchen Aussagen. Würde man meinen. Kurz bleibt jedoch dabei – präsentiert einmal eine erfreuliche und dann wieder eine betrübliche Aussicht.

Wie kann dem Kanzler das trotz seiner kommunikativen Fähigkeiten gelingen? Immerhin können wohl nur ganz Wenige so klar und deutlich reden. These eins: Kurz kann nicht anders, er lebt permanent von Stimmungen und Stimmungsmache. Er betreibt nicht Politik in dem Sinne, dass er aus Überzeugung etwas in einer bestimmten Art und Weise gestalten will. Seine Quelle sind vielmehr Meinungsumfragen. These zwei: In der Umsetzung lebt Kurz von der Emotionalisierung. Der kräfteraubenden Dauer einer Pandemie kann er daher schwer gerecht werden; er muss von einem Extrem ins andere springen. Und These drei: Kurz braucht permanent die Hoheit über das Geschehen. Ja, selbst am Sonntagvormittag vor einer ORF-Pressestunde des grünen Gesundheitsministeriums glaubt er, diesen mit einer Aussendung und einer unschlagbaren Botschaft („Beginn einer zweiten Welle“) aus den Schlagzeilen verdrängen zu müssen.

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