ANALYSE. Wie fest Karl Nehammer nach der Tiroler Landtagswahl „im Sattel“ sitzt, ist nebensächlich. Wichtiger ist, dass er endlich Akzente setzt, die zunehmenden Unsicherheiten gerecht werden. Sonst steht Johanna Mikl-Leitner in der Pflicht.
„Es braucht eine klare Führung durch die Regierung, es braucht einen Schulterschluss in der Koalition und es braucht eine konstruktive Zusammenarbeit im Parlament“, sagte die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) vor eineinhalb Monaten. Verstanden wurde es nicht so sehr als Appell an Oppositionsleute wie Herbert Kickl (FPÖ) und Pamela Rendi-Wagner (SPÖ) oder als Ermahnung von Vizekanzler Werner Kogler (Grüne). Es galt vor allem als öffentliche Zurechtweisung des Mannes an der Spitze – und dieser schien es auch so zu verstehen. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) sagte jedenfalls seinen Urlaub ab, um sich im Sommer durchgehend und ganz seinen Pflichten widmen zu können.
Ausreichen war das allerdings nicht. Nehammer scheint sich eher zurückgezogen zu haben. Zu sehen ist er selten, zu hören ist wenig von ihm. Wenn, dann verkündet er Ausgleichsmaßnahmen zur Teuerung, die auf Dauer aber nicht ausreichen werden und die vor allem auch nicht helfen, dem – etwa bei der SORA-Wahltagsbefragung in Tirol festgestellten – Eindruck in wachsenden Teilen der Bevölkerung entgegenzuwirken, dass die Entwicklungen im Land alles in allem eher negativ sind; was unter anderem wohl in Verbindung mit dem wahrgenommenen Hauptproblem „Inflation und steigende Preise“ zu sehen ist, also bei weitem nicht nur einer Landesgeschichte.
These: Das verstärkt sich, wenn es so gar keine Orientierung dazu gibt. Wenn es ein Kanzler unterlässt, gemeinsam mit den Mitgliedern seiner Regierung die Menschen in Österreich darauf vorzubereiten, was sie erwarten könnte; was der Staat leisten kann und wo es etwa auf das ankommt, was gemeinhin als Zivilgesellschaft bezeichnet wird; vielleicht mit dem ermunternden Zusatz, dass man gemeinsam allerhand schaffen werde.
Die Leute spüren, was ist, und daraus können sich sehr üble Stimmungen entwickeln, wenn die Politik nicht darauf eingeht. „Die“ Politik? Man muss von österreichischen Verhältnissen ausgehen: Politik, gleichgesetzt mit Regierung, hat in der Vergangenheit gerne den Eindruck erweckt, alles regeln zu können; das kann durchaus auch gut gemeint gewesen sein. Jetzt aber wird es auch erwartet von ihr. Insofern steht der Kanzler naturgemäß ganz besonders unter Druck.
Das muss Karl Nehammer, der dieses Amt zurzeit bekleidet, dringend auflösen. Schweigen macht alles nur noch schlimmer. Besser, eine Masse weiß, woran sie ist, als sie verliert sich in irgendwelchen Vorstellungen.
Man kann nur rätseln darüber, warum der Kanzler hier nicht liefert. Eine von vielen möglichen Erklärungen ist, dass er kein Mann der Worte ist und dass er die Metaebene, um die es hier immer auch geht, so gar nicht draufhaft. Eine andere Erklärung ist, dass er sich der Unterstützung seiner Landes- und Bündeobleute nicht sicher sein kann; dass er sich gezwungen sieht, seine Umfragewerte zu halten und vor der Landtagswahl in Tirol zuletzt ebenso wenig (vermeintlich) schlechte Nachrichten zu liefern wie nun vor der bevorstehenden in Niederösterreich.
Das führt jedoch wieder zurück zu Mikl-Leitner: In ihrem Appell vor eineinhalb Monaten hat sie sich und ihresgleichen vergessen. So lange die ÖVP die Regierung führt, bestimmen de facto sie, wer Kanzler ist und wie viel Spielraum er hat. Sie haben Nehammer „gemacht“, sie stehen mit in der Verantwortung.