ANALYSE. Nach #Kleinwalsertal kann sich Bundeskanzler Sebastian Kurz nicht mehr erwarten, dass 95 Prozent der Bevölkerung auf ihn hören. Mitten in der Krise ist das verhängnisvoll.
Unter normalen Umständen hätte sich trotz Corona niemand an den Bildern aus dem Kleinwalsertal gestoßen: In der Gegend gibt es seit vielen Tagen kaum noch bestätigte Infektionen. Da kann auch ein Bundeskanzler mit dem Landeshauptmann auftreten und auf einem weiten Platz an der frischen Luft ein paar Worte an die versammelte Bevölkerung richten. Immerhin hatten sie zuletzt ja besonders gelitten: Das Tal gehört zwar zu Österreich, ist aber nur über Deutschland erreichbar. Deutschland hat die Grenzen wiederum dicht gemacht. Die Walser waren also eingesperrt – und – ganz ehrlich – vergessen. Ein Besuch des Regierungschefs kann unter diesen Umständen eine Wohltat sein.
Aber was ist schon „normal“? Wobei sich das jetzt nicht auf das Virus im Allgemeinen bezieht. Sondern auf den Kanzler im Besonderen: Sebastian Kurz hat die Österreicher in den ersten Wochen der Pandemie erfolgreich darauf eingeschworen, zu Hause zu bleiben. Ende März hat er jedoch angefangen, zu übertreiben: Als immer klarer wurde, dass die Disziplin der Bevölkerung Bilder verhindern wird, wie man sie aus Italien, Frankreich oder Spanien kennt, ließ er die Maßnahmen noch verschärfen. Stichwort Maskenpflicht.
Selbst trat er fortan bei den (fast) täglichen Pressekonferenzen nur noch mit einem Mundschutz hinter einer Plexiglasscheibe auf, um sich an mehrere Meter entfernte Kameraleute und Journalisten zu wenden. Gut, kann man einwenden, da ging es vor allem um die Signalwirkung: Vielleicht sollte der Masse einfach nur signalisiert werden, dass der 33-Jährige eigentlich immer mit Mundschutz unterwegs ist und dass man das daher ruhig auch machen kann, ohne einen Genierer haben zu müssen.
Zweifel an dieser Version sind jedoch angebracht: Ohne auch nur ansatzweise transparent zu machen, welchem Expertenrat er folgt, hat Sebastian Kurz Ende März die Beschränkungen ausgeweitet. Damit hat er sich selbst nichts Gutes getan, weil er darauf verzichtet hat, sich einfach nur öffentlich abzusichern. Und weil er sich damit indirekt auch zu demjenigen erhoben hat, der allein weiß, was zu tun ist und dem die Menschen in Österreich daher zu folgen haben.
Umso brutaler ist nun, was im Kleinwalsertal passiert ist: Kurz wurde seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht. Er hat den Kontakt zur Bevölkerung gesucht und sogar eine kleine Ansprache gehalten; und er ist eben auch Seite an Seite mit Lokalprominenz, wie dem Bürgermeister sowie Landeshauptmann Markus Wallner aufgetreten. Seine Ersuchen, Abstand zu halten, wirkten schon von daher wenig glaubwürdig und wurde von den Leuten offenbar auch belächelt. Wen wundert’s? Kurz und sein Team hoffentlich nicht.
Das Ganze schlägt ein und ist eine potenzielle Katastrophe: Was sollen sich all die Österreicher denken, die sich noch immer kaum aus dem Haus trauen und wenn, dann, dem vermeintlichen Vorbild folgend, nur mit Maske? Sind sie jetzt „Lebensgefährder“, wie ÖVP-Innenminister Karl Nehammer vor einigen Wochen gemeint hat, oder doch nicht? Oder: Was soll in einem Künstler vorgehen, der von den Grünen ohnehin schon enttäuscht ist und sich nun auch noch provoziert fühlen kann? Darf er jetzt also auch wieder auftreten und Geld verdienen, sofern er sein Publikum einfach nur pflichtgemäß, aber wirkungslos bittet, Abstand zu halten? Natürlich nicht: Er muss warten, bis der Gesundheitsminister eine Regelung präsentiert. Bis dahin darf er schauen, wie er über die Runden kommt. Pech gehabt.
Die Moral ist dahin. Und das ist verhängnisvoll: Wir stehen eher nicht am Ende, sondern am Anfang einer großen Krise. Weitere Infektionswellen sind zu befürchten, (Selbst-)Beschränkungen könnten wieder nötig werden. Und dazu wäre halt einmal mehr ein Kanzler von entscheidender Bedeutung gewesen, dem eine überwältigende Mehrheit vertrauen kann.
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