ANALYSE. Die ÖVP will sich bei Abschiebungen nicht durch Menschenrechte bzw. deren Auslegung aufhalten lassen. Ein Tabubruch.
Der Europäische Gerichtshof (EGMR) für Menschenrechte lässt einen straffällig gewordenen Mann weiterhin nicht nach Syrien abschieben. FPÖ-Generalsekretär Michael Schnedlitz findet in einer Aussendung, dass Innenminister Gerhard Karner (ÖVP), der derartige Abschiebungen forcieren möchte, mit „seiner ganzen Show-Asyl-Politik“ gescheitert sei: Er schaffe es nicht einmal, einen einzigen Syrier abzuschieben und lasse gleichzeitig weitere „tausende illegale Einwanderer ins Land“. Ja, indem er sich dem Stopp beuge, „apportiert“ er laut Schnedlitz „wieder ganz nach ÖVP-Manier in Richtung Absurditäten aus Straßburg und Brüssel“.
Das will sich die Volkspartei nicht zweimal nachsagen lassen.
Das Verständnis für das Vorgehen des Gerichtshofes mag in weiten Teilen der Bevölkerung gering sein. Zu tun hat das damit, dass es seitens der Politik kein wahrnehmbares Bemühen gibt, zu erklären, worum es geht: Der Gerichtshof ist, wie es seiner Aufgabe entspricht, bei der Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) streng. Er kann daher nicht zulassen, dass Abgeschobene Gefahr laufen, ohne faires Verfahren eingesperrt, geschweige denn gefoltert oder getötet zu werden. Auch wenn es sich um hierzulande verurteilte Straftäter handelt. Es sind ebenfalls Menschen und die Menschenrechtskonvention gilt auch für sie.
Die ÖVP denkt nicht mehr daran, um Verständnis dafür zu werben: Sie sieht die FPÖ davonziehen und versucht daher zunehmend verzweifelt, möglichst keine Angriffsfläche zu bieten.
Zum ORF-Sommergespräch mit Parteichef, Kanzler Christian Stocker, präsentierte sie auf ihrer Website fünf Highlights. Zwei widmenden sich nicht Asyl und Migration: Die 2:1:0-Formel von Stocker und die Erhöhung des Investitionsfreibetrags für Unternehmen. Die übrigen drei Highlights widmeten sich Asyl und Migration bzw. vor allem der Abschiebung von straffällig gewordenen Asylwerbern: Stocker unterstellte dem EGMR, von Österreich zu verlangen, darauf zu achten, dass es einem Betroffenen in Syrien gut geht. Das ist zynisch. Dem EGMR ist wichtig, dass Rechte gewahrt werden.
Der Kanzler bekräftige, nach Syrien, aber auch Afghanistan abschieben zu wollen: „Wenn es dafür keinen bestehenden legalen Weg gibt, müssen wir die Grundlage dafür schaffen.“ Sprich: Es solle die Menschenrechtskonvention gelockert werden. Bzw.: Stocker verlangt vom EGMR eine „authentische Auslegung“ der Menschenrechtskonvention.
Ein seltsamer Begriff in diesem Zusammenhang. Authentisch ist laut Duden „echt; den Tatsachen entsprechend und daher glaubwürdig“. Es scheint sich aber nicht um einen Versprecher, sondern eine bewusst gewählte neue Formulierung der ÖVP zu handeln: Als Antwort auf die Schnedlitz-Kritik an Karner verlangte auch Generalsekretär Nico Marchetti „eine authentische Interpretation der EMRK“.
Wichtiger: Marchetti will seiner Partei eben nicht noch einmal nachsagen lassen, Straßburg zu „apportieren“: Abschiebungen würden „passieren“, so Marchetti wörtlich, „ganz gleich, ob der EGMR doch noch zu Vernunft“ komme oder nicht. Es soll ihm also keine Bedeutung mehr beigemessen werden, er soll hier ignoriert werden.