ANALYSE. Mehr als 30.000 Stellungnahmen zur geplanten Verschärfung des Epidemiegesetzes sind eine Warnung – die überfällig ist.
Jede Regierung ist bei allem, was sie tut, mit Kritik konfrontiert; das muss für sich genommen noch nicht einmal schlecht sein, im Gegenteil. Es gibt jedoch ein Maß, das alarmierend sein sollte. Allein schon die Anzahl der Stellungnahmen gegen die geplante Verschärfung des Epidemiegesetzes beispielsweise. Wenige Stunden nach Ende der ohnehin auf ein Sechstel der üblichen Dauer verkürzten Begutachtungsfrist hat das Parlament auf seiner Seite dreißigtausend-neunhundertfünfundzwanzig erfasst: 30.925. Bei der jüngsten Änderung (bzw. dem Begutachtungsentwurf dafür) waren es knapp halb so viele (14.378). Üblich sind abseits dieser Materie sonst eher zehn bis 20, nur selten weniger oder mehr, so gut wie nie über 1000 (siehe Grafik).
Es brodelt ganz offensichtlich. Nicht nur unter grundsätzlichen Impfgegnern, Corona-Leugnern, Rechtsextremen oder Verschwörungstheoretikern. Das geht viel weiter und zum Teil auch gewissermaßen in die Mitte der Gesellschaft hinein. Wobei man es sich viel zu einfach macht, wenn man dem nur entgegenhält, dass das in so schwierigen Zeiten und in Anbetracht der Dauer dieses Ausnahmezustandes „natürlich“ sei.
Wie man es sich im Übrigen zu einfach macht, wenn man darauf hinweist, dass die Quantität der Stellungnahmen nicht mit der Qualität übereinstimmt: Tausende enthalten ein- und denselben Text mit dem Hinweis, dass es sich um „unzulässige Eingriffe in unsere Verfassung und die im Verfassungsrang stehenden Grundrechte“ handle. Viele sind emotional gefasst, wie jene des hier schon zitierten Tiroler ÖVP-Wirtschaftsbundfunktionärs Michael Gitterle; er schreibt: „Ist dies jetzt die letzte Möglichkeit, das widerspenstige Volk unter Kontrolle zu halten? Eine Regierung auf Augenhöhe mit seinen Mitmenschen bräuchte niemals solch drastische Mittel!“
Der Punkt ist, dass es auch sehr nüchterne, rechtlich fundierte Einzelmeinungen gibt. Zum Beispiel jene der Rechtsanwaltskammer, die die Regierung darauf hinweist, dass man eine private Zusammenkunft von zumindest vier Personen aus zumindest zwei Haushalten nicht als „Veranstaltung“ einstufen dürfe; und dass ein Ansinnen, solche verbieten zu können, wenigstens auch ausdrücklich genau so normiert werden sollte – wobei es von der Kammer ohnehin dezidiert abgelehnt wird.
Selbst wenn man diesen Aufstand in Form von zehntausenden Stellungnahmen relativiert, bleibt sehr viel über: Man darf sich mit rechtlichen Bedenken bestätigt fühlen. Das ist das eine. Das andere: Die Regierung beschert sich hier selbst einen Tsunami. Nach einem Jahr ist sie noch immer nicht bereit, bei einschneidenden Maßnahmen eine allgemeine Begründung mitzuliefern, weshalb diese „notwendig, angemessen, zielführend und verhältnismäßig“ sein sollen, wie die Rechtsanwaltskammer in ihrer Stellungnahme festhält.
Das schürt den Widerstand über ein „normales“ Maß hinaus. Ja, es provoziert einen solchen sogar. Verstärkt wird das zudem durch extrem verkürzte Begutachtungsfristen, die Bürgerinnen und Bürgern zwei Dinge signalisieren: Ihre Meinung ist nicht gefragt; man will etwas hinter ihrem Rücken durchziehen (was für sich genommen schon verdächtig wirkt).
Das Epidemiegesetz fällt in die Verantwortung von Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne). Diese Geschichte hängt vor allem an ihm. Wundern kann man sich jedoch darüber, dass die Regierung noch immer keine Prozesse gefunden hat, die dem Umfang und der Tragweite vieler Maßnahmen, mit denen er allein konfrontiert ist, gerecht wird; warum sie den naturgemäß Überforderten also nicht entlastet. Aber das ist eine andere Geschichte.
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