ANALYSE. Was für größere Überraschungen bei der Nationalratswahl am 29. September spricht.
Die ÖVP uneinholbar weit vorne, rot-blaues Duell um Platz zwei, starke Zugewinne für Grüne und Neos: So lautet die Zusammenfassung der Meinungsumfragen schon seit Wochen, wenn nicht Monaten. Untertitel: Die schwarz-blaue Mehrheit bleibt mehr oder weniger unverändert gut abgesichert. Für fast alle Parteien ist das eine mittlere Katastrophe: Sebastian Kurz (ÖVP) hat es nicht ganz so einfach, Anhänger zu mobilisieren, wenn es auf die einzelne Stimme eh nicht mehr ankommt. Die SPÖ kann man kaum noch mit dem Motiv wählen, Pamela Rendi-Wagner zur Kanzlerin zu machen. Und so weiter und so fort.
Das „Problem“ bei alledem ist, dass gerade weil alles so fix scheint, sehr vieles möglich wird. Gut, die ÖVP wird Platz eins wohl halten können. Bei der schwarz-blauen Mehrheit ist die Sache aber schon nicht mehr ganz so sicher: „Unique Research“ hat der ÖVP in einer Umfrage für profil, ATV und Heute gerade 33 Prozent ausgewiesen – mit einer Schwankungsbreite von 31 bis 35 Prozent. Bei der FPÖ beträgt die Schwankungsbreite 18 bis 22 Prozent. Summa summarum sind das 49 bis 57 Prozent. Und auch wenn es problematisch ist, davon auszugehen, dass beide Parteien zugleich ihr Minimum erreichen, zeigt es doch, was theoretisch möglich ist.
Umso mehr als ja auch die Freiheitlichen eine Mobilisierungsherausforderung zu bewältigen haben: Kaum jemand glaubt, dass Schwarz-Grün kommen könnte; oder gar Rot-Grün-Pink. Grund: Für die erste Konstellation werden zum Beispiel in der „Unique Research“-Erhebung 46 Prozent ausgewiesen und für die zweite überhaupt nur 43 Prozent. Nimmt man – trotz allem, was dagegen spricht – bei all den involvierten Parteien jedoch die Maximalwerte aus der Schwankungsbreite, ergibt das 50 Prozent für Schwarz-Grün und 48 Prozent für Rot-Grün-Pink. Das zeigt: So unwahrscheinlich das eine wie das andere ist, so wenig kann man es andererseits ausschließen.
Wie das ja bei den Grünen überhaupt so eine Sache ist: Sie haben relativ wenige Stammwähler. 2017 wurde ihnen das zum Verhängnis, sie verloren enttäuschte Wähler an die SPÖ genauso wie an die Liste Pilz, die Neos, aber auch die ÖVP. Aus allen Richtungen könnten sie nun wieder zurückkehren. Oder auch nicht. Viele von denen, die heute in Umfragen erklären, die Grünen zu wählen, geben auf Nachfrage an, dass dies noch nicht fix sei. Insofern ist eine Überraschung für die Partei fast schon vorprogrammiert.
Prognosen sind in ihrem Fall jedenfalls unmöglich. Aber das ist ja nichts neues. In den Umfragen vor der EU-Wahl wurden den Grünen Anfang Mai sieben bis zehn Prozent attestiert. Beim Urnengang Ende Mai holten sie 14,1 Prozent (Wobei nicht zu sagen ist, welchen Einfluss das, was dazwischen passierte (Ibiza, Koalitionsende) hatte.)
Dass es kein bestimmendes Thema gibt in diesem Wahlkampf, macht es für die Parteien nicht einfacher. Im Gegenteil. 2017 stand ganz „im Schatten der Flüchtlingskrise“ (Buchtitel von Fritz Plasser und Franz Sommer). Über die Botschaften dazu ergab sich quasi das Wahlergebnis. Sebastian Kurz ahnte das und wiederholte immer und immer wieder, die Balkanroute geschlossen zu haben. Viel mehr musste er nicht liefern. Heute gibt es dieses eine Thema eben nicht – ja, man wird möglicherweise erst nach der Wahl wissen, welche Themen und Botschaften überhaupt entscheidend waren.