ANALYSE. Wenn die Klimaschutzministerin wirklich Verfassungsbruch begangen hat, hat sie zu gehen. Oder: Der Kanzler ist in der Sache unglaubwürdig. Und überhaupt.
Österreichische Innenpolitik im Frühsommer 2024. Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) stimmt im EU-Umweltrat gegen den Willen der ÖVP einem Renaturierungsgesetz zu. Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) wirft Gewessler vorab Verfassungsbruch vor. Reaktion des freiheitlichen Generalsekretärs Christian Hafenecker auf X (Twitter): Warum fordere sie die Grüne „nicht einfach dazu auf, das #Land zu verlassen?“
So bekommt man eine Vorstellung davon, wie es im Falle eines freiheitlichen „Volkskanzlers“ Herbert Kickl laufen würde. Wer nicht agiert, wie’s gefällig ist, wird rausgeschmissen. Wobei: Agiert Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) wesentlich besser? Nicht missverstehen, in seinem Fall geht es um eine ganz andere Ebene.
Wenn er Gewessler aber nicht nur einen schweren Vertrauensbruch unterstellt, sondern auch klar für ihn ist, dass sie Rechts-, ja Verfassungsbruch begangen hat, wenn diesbezüglich quasi nicht einmal mehr eine Unschuldsvermutung gegeben ist für ihn, dann lässt es tief blichen, dass er die Koalition nur aus der Emotion heraus ganz gerne beenden würde, es aber nicht tut.
Wenn er von dem, was er da unterstellt, überzeug ist, dann muss er zumindest dafür sorgen, dass die Grüne als Klimaschutzministerin gehen muss. Das wäre das Mindeste. Ein – seines Erachtens – eindeutiger Verfassungsbruch ist keine Geschwindigkeitsübertretung, bei der man zahlen und weiterfahren darf.
Der Verweis auf eine ohnehin bald stattfindende Nationalratswahl oder ein freies Spiel der Kräfte, das sonst auf parlamentarischer Ebene drohen würde, ist dann im Übrigen irrelevant. Aber Nehammer strapaziert trotzdem solche Argumente, ist damit in der Sache inkonsequent und macht sich unglaubwürdig.
Zugegeben: dieSubstanz.at kann nicht beurteilen, ob sich die Klimaschutzministerin zwingend mit dem türkisen Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig hätte abstimmen müssen; oder ob sie noch an eine Stellungnahme der Länder gebunden gewesen wäre. Sie verfügt über Gutachten, wonach sie darauf verzichten und dem Renaturierungsgesetz im EU-Umweltrat zustimmen konnte. Das ist interessant.
Der ÖVP-Hinweis, dass sie sich an eine Einschätzung des im Kanzleramt angesiedelten Verfassungsdienstes zu halten gehabt hätte, erscheint nur begrenzt überzeugend. Es ist in gewisser Weise zu nah dran an einer Richtlinienkompetenz gegenüber einzelnen Regierungsmitgliedern, die es nicht gibt; und es ist andererseits zu weit weg von ihrer Gelöbnisformel, wonach sie ihre Pflichten nach bestem Wissen und Gewissen im Rahmen der Verfassung zu erfüllen haben.
Bezeichnend auch der Aspekt mit der einheitlichen Länderstellungnahme: Es ist im Grunde genommein ein verfassungsrechtlicher Skandal, dass das Zustandekommen und andere Details in Bezug auf eine solche nirgends geregelt ist. Brutal formuliert: Was ist denn das für ein Staat, in dem nicht bestimmt ist, ob Rauchzeichen, Handzeichen oder was auch immer notwendig sind, damit ein Beschluss zustande kommt, an den sich ein Regierungsmitglied zu halten hat? Dass diesbezüglich nicht einmal geregelt ist, ob und allenfalls wie zwei Länder (wie im konkreten Fall Wien und Kärnten) eine neue Abstimmung verlangen können, weil sich die Vorlage zum Renaturierungsgesetz ihres Erachtens inhaltlich entscheidend geändert hat. Genauer: Dass es für solche Fragen zwar eine sogenannte Integrationskonferenz der Länder gibt, ebendiese aber laut „Standard“ seit Jahrzehnten nicht getagt hat. Dass man das einfach intransparent irgendwie checkt, wie es einem gefällt.