ANALYSE. Am Ende läuft es auf etwas hinaus, was den Bundespräsidenten stärken könnte: Nicht der Erste wird eine Regierung bilden, sondern der, der eine Mehrheit zusammenbringt.
Zum Thema Regierungsbildung hat sich Bundespräsident Van der Bellen im Grunde genommen schon seit über einem Jahr nicht mehr geäußert. Damals hat er in einem Interview mit Susanne Schnabl und Hanno Settele (beide ORF) klargemacht, dass Herbert Kickl (FPÖ) nicht davon ausgehen kann, nach einem Wahlsieg den Auftrag zur Bildung einer Regierung zu erhalten. Mit Platz eins bei der Wahl ist kein Ticket gelöst, so die Botschaft: „Das ist in Österreich zwar Usus, aber nicht in der Verfassung vorgeschrieben.“
Es ist wirklich nur eine Frage der Zeit, bis die Schönheit und Eleganz der Verfassung sichtbar wird. Gewohnt ist man ja dies: Der Bundespräsident ist bei einer Regierungsbildung im Grunde genommen nur Passagier. Im schlimmsten Fall muss er, wie Thomas Klestil 2000, überhaupt akzeptieren, dass der Zug ohne ihn losfährt, und schauen, wie er es bis zur Ankunft (Angelobung) schafft, aufzuspringen.
Das hat alles damit zu tun, dass die Mehrheitsverhältnisse relativ klar sind. Dass es normal ist, dass zwei Parteien über mindestens 92 der 183 Nationalratsmandate verfügen, wobei die Zahl der praktisch möglichen bzw. von den maßgeblichen Akteuren gewollten Optionen überschaubar ist.
Das ändert sich jedoch. Nach einer Wahl an diesem Sonntag könnte es zum Beispiel sieben Fraktionen geben im Hohen Haus. Würde die FPÖ von Herbert Kickl mit, sagen wir, 27 Prozent, klar auf Platz eins kommen, müsste sie befürchten, die Not zu haben: Gut möglich, dass die ÖVP als Partnerin zu klein wäre und sie bei weiteren Parteien anklopfen müsste, die Kickl schon einmal als „Volksverräter“ niedergemacht hat.
Selbstverständlich: Für die Chefs der zweit- und drittplatzierten Parteien wäre es auch nicht einfach, eine Regierung zu bilden. Für Andreas Babler (SPÖ) und Karl Nehammer (ÖVP) also. Sie aber haben sich im Unterschied zu Kickl nicht nur Gegner gemacht; und je nachdem, wie sehr sie bereit sind, auf andere zuzugehen, würde es ihnen weniger schwer als Kickl fallen, eine Drei- oder Vierparteien-Koalition zu bilden, an der nun einmal kein Weg vorbeiführen könnte.
Es wäre auf der anderen Seite die Stunde des Bundespräsidenten: Bei einer Regierungsbildung ist er kaum weniger relevant als der Nationalrat, zumal er aufgrund seiner Direktwahl über die größtmögliche demokratische Legitimation verfügt in dieser Republik. Gerade in Zeiten des Zerfalls einer gewohnten, überschaubaren Parteienlandschaft würde es darauf ankommen, dass er mitwirkt. Dass er in Gesprächen auslotet, was geht, hilft, Brücken zu bauen und so weiter und so fort.
Als Van der Bellen im Jänner vor einem Jahr signalisierte, Kickl nach einem Wahlerfolg nicht automatisch ins Kanzleramt zu befördern, hat sich dieser gefreut: „Seht her, er ist gegen mich, weil ich für euch bin“, sagte er seinen Anhängern sinngemäß. Er ortete eine Wahlhilfe.
Der Bundespräsident weiß, dass er sich das ersparen kann. Kickl übersieht offenbar, was er auf dem Rader halbe sollte: In einem „Krone“-Interview hat er gerade wieder groß geredet, er würde nie in seinem Leben auf die Idee kommen, als Zweiter oder Dritter den Anspruch zu stellen Regierungschef zu sein: „Das ist undemokratisch, das ist grotesk, das ist absurd“, bekräftigte er. Irrtum: Es ist weder absurd noch grotesk noch undemokratisch, sondern das, was mehr und mehr in den Bereich des Möglichen rückt: Dass es weniger denn je darauf ankommt, wer Erster, Zweiter oder Dritter ist, sondern allein drauf, wer in der Lage ist, ein tragfähiges Mehrparteienbündnis zu schmieden.