Türkise Verzweiflung

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ANALYSE. Durch den Ukraine-Krieg ist es für die ÖVP schwer geworden, mit „Flucht und Migration“ Stimmung zu machen. Sie versucht es trotzdem. Das kann nicht gutgehen.

Durch den Wechsel von Sebastian Kurz zu Karl Nehammer hat sich nicht nichts geändert. Neu ist zum Beispiel die Wortwahl: Angesprochen werden nicht mehr nur die Österreicherinnen und Österreicher, sondern alle Menschen, die in Österreich leben. Redete Kurz von illegaler Migration, spricht Nehamer von irregulärer. Das ist ein ungewohnter, aber korrekter Begriff. „Als irreguläre Migrantinnen und Migranten (auch: undokumentierte Migranten, Papierlose, Sans Papiers oder Statuslose) werden Personen bezeichnet, die ohne Aufenthaltserlaubnis in einem Land leben, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen“, heißt es in eimem Lexikon der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung: „Zum Teil sind sie bereits unerlaubt in dieses Land eingereist.“

Und überhaupt: Ende Dezember wies der Christdemokrat Nehammer die Forderung des Papstes, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, ausdrücklich zurück: „Das ist keine Frage der bösen Absicht, sondern der Machbarkeit.“ Seit bald drei Monaten ist das anders, ist die Machbarkeit auch für Nehammer schier unendlich geworden: Halt nicht unter dem Titel „Flüchtlinge“, sondern unter der Bezeichnung „Vertriebene“ wird so viel „Nachbarschaftshilfe“ für Kinder, Frauen und Männer aus der Ukraine geleistet wie nötig. Bald könnten mehr zusammenkommen, als syrische Staatsangehörige im Jahr 2015.

Gerne wird betont, dass man das nicht vergleichen könne. Stimmt – und stimmt auch nicht. Für die Politik maßgebend ist die Stimmung in der Bevölkerung. Sie ist gegenwärtig sehr wohlwollend gegenüber Schutzbedürftigen. Belastungsproben stehen jedoch erst an: Gerade im sogenannten unteren Segment des Wohnungs- und des Arbeitsmarktes, in dem vergleichsweise wenig Geld zu zahlen und zu verdienen ist, könnte es mit der Zeit eng werden; damit würden Konflikte einhergehen, sofern es die Politik nicht schafft, Beiträge zur Entspannung zu leisten.

Für die ÖVP stellt sich ein anderes, ein geradezu existenzielles Problem: Sie muss einen Preis für die Kurz-Jahre zahlen. Unter Kurz hat sie mit gezielten Slogans, wie „Keine Zuwanderung ins Sozialsystem“, sehr viele Leute gewonnen, die Migration ziemlich undifferenziert ablehnen. Allein 2019 zog sie laut SORA über 250.000 Ex-FPÖ-Anhänger zu sich. Diese Klientel will bedient werden.

Die Bemühungen der Partei sind auch unter Nehammer groß. Darüber können ein paar gemäßigte Floskeln und auch geänderte Ausrichtungen (gegenüber Ukrainerinnen und Ukrainern) nicht hinwegtäuschen. Kein Tag vergeht, an dem Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) Schleppern nicht den Kampf ansagt oder vergisst, zu betonen, dass Grenzschutz wichtiger denn je sei. Allein: Es geht unter, auch weil Karner selbst bei sehr vielen unten durch ist. Im APA/OGM-Vertrauensindex erreichte er zuletzt einen Negativwert von minus 23. Das muss man als Sicherheitsminister einer selbsternannten Sicherheitspartei erst einmal zusammenbringen. Im Ernst: Es ist eine Belastung für diese.

Es erklärt vielleicht, warum ÖVP-Generalsekretärin Laura Sachselhner gar so schrill auf die Forderung der Wiener Arbeiterkammer reagierte, jungen Menschen, die in Österreich geboren worden sind, nach fünf Jahren einen Zugang zur österreichischen Staatsbürgerschaft zu ermöglichen. „Die Staatsbürgerschaft ist ein hohes Gut & darf nicht leichtfertig vergeben werden. Trotzdem startet die SPÖ – diesmal mit Hilfe der roten AK – einen neuerlichen Anlauf, den Wert der Staatsbürgerschaft zu schmälern und einen weiteren Pullfaktor für Migration zu schaffen“, schrieb Sachslehner auf Twitter.

Dazu muss man wissen: Österreich zählt zu den Ländern in Europa, die extrem zurückhaltend sind mit Einbürgerungen. 2020 belief sich die Quote gemessen an der ausländischen Wohnbevölkerung auf 0,6 Prozent. Niedriger war sie nur in Tschechien und den drei baltischen Staaten. Zweitens: Zuwanderung ist überwiegend nicht mehr einseitig sozial begründet. Es handelt sich um qualifizierte Personen und oder Leute, die auf dem Arbeitsmarkt gebraucht werden (zum Beispiel für die Pflege). Die größte Gruppe bilden längst Deutsche, gefolgt von Rumänen. 2020 stammte nur gut ein Prozent der Zugewanderten aus Afghanistan, einem Herkunftsland, auf das Karner und Sachslehner unterschwellig mit-anspielen.

Gerade auch bei dieser Zuwanderung könnte es sogar klug sein, den Zugang zur Staatsbürgerschaft zu erleichtern: Hier wäre ein Pullfaktor für Fachkräfte oder eben Personen, die für bestimmte Tätigkeiten dringend gesucht werden, hochvernünftig. Doch Sachselhner sieht sich eben gezwungen, das Gegenteil zu vermitteln. Was unterstreicht, wie es um ihre Partei bestellt ist.

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