Türkis ist vorbei

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ANALYSE. Bundeskanzler Nehammer setzt zu einem brutalen Schnitt an. Er hat keine andere Wahl, will er die ÖVP retten. Ob seine Kraft ausreichen wird, ist jedoch offen.

Als der neue Bundeskanzler und designierte ÖVP-Chef Karl Nehammer in ersten Interviews „volle Transparenz“ in Bezug auf Inserate und Parteienfinanzierung ankündigte, meinte er das nicht nur so wie sein Vorgänger Sebastian Kurz einst das Versprechen, das Amtsgeheimnis abzuschaffen. Sondern ernst. Das kann man heute sagen, nachdem sein Parteikollege, Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) den Bericht der Internen Revision des Ministeriums zu Umfragen und Kampagnen veröffentlichte, die unter den türkisen Ressortchefs Hartwig Löger und Gernot Blümel durchgeführt wurden. Das Ergebnis ist eine Vernichtung.

Brunner bringt das in eigenen Worten zum Ausdruck: „Die Untersuchung der Internen Revision hat Defizite aufgezeigt, die dem Selbstbild eines modernen und effektiven Verwaltungsapparates entgegenstehen. Das ist nicht der Standard, den ich anlege und es entspricht auch nicht meinem Verständnis, wie mit Steuergeld umzugehen ist. Es braucht eine gelebte Compliance, moderne und transparente Vergabeprozesse und wir werden die Ausgaben für Inserate und Einschaltungen zurückfahren.“ Brunner sieht ein „Strukturversagen“.

Im Bericht werden Verdachtsmomente der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) bestätigt. Im Finanzministerium wurden jahrelang, ohne aufs Steuergeld zu achten, Inserate vergeben. Willkürlich. Eine Strategie gab es nicht. Studien wurden teilweise für parteipolitische Zwecke erstellt. „Aus den nachgereichten Unterlagen ist erkennbar, dass die ursprüngliche, undatierte Studie in hohem Maße Fragen zu politischen Parteien und Politikern enthielt und ,Ergänzungsarbeiten‘, soweit nachgeliefert, den sachlichen Zusammenhang zu der ursprünglichen Studie vermissen lassen“, heißt es im Untersuchungsbericht der Internen Revision zu einem besonderen Fall wörtlich.

Hier geht es letztlich darum: Mit dem System Sebastian Kurz, mit türkisen Praktiken wird abgerechnet. Wie ein Vorstandsvorsitzender, der weiß, dass er von seinem Vorgänger erhebliche Missstände übernimmt, die seinen Job erschweren; und der daher alles schonungslos offenlegt, damit auch wirklich nichts davon an ihm hängen bleibt, lässt Nehammer hier vorgehen.

Freilich: Alles hat seine Grenzen. Karl Nehammer arbeitet wohl der Tatsache vor, dass noch sehr viel aus den vergangenen Jahren ans Licht kommen könnte. Über den Korruptions-U-Ausschuss, der auf parlamentarischer Ebene gerade eingesetzt worden ist; über staatsanwaltschaftliche Ermittlungen und eines Tages unter Umständen auch über mögliche Gerichtsprozesse. Also muss er sich von allem Anfang seiner Amtszeit als Kanzler und ÖVP-Chef an deutlich distanzieren davon, um sich und die schwarze Volkspartei zu retten.

Das Eis, auf dem sich Nehammer bewegt, ist dünn: Er selbst war im Nationalratswahlkampf 2019 Generalsekretär der ÖVP. Über den „Falter“ ist bekannt geworden, dass auch damals beabsichtig war, die Wahlkampfkostenbegrenzung von sieben Millionen Euro zu überschreiten.

Wenn er einen Neubeginn setzen und etwa die Inseratenkorruption einstellen will, macht er sich Feinde. Vor allem unter den Boulevardmedien, die von den Steuergeldern leben. Als Innenminister hat er sie selbst bevorzugt und großzügig bedient, wie dieSubstanz.at hier dokumentiert hat. Hat er die Kraft, sich darüber hinwegzusetzen?

Die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) wird keine Freude damit haben, im Vorfeld „ihrer“ Landtagswahl Anfang 2023 mit unliebsamen Massenblättern konfrontiert zu sein. Nehammer selbst hat – wie hier näher ausgeführt – auch schon Schwächen gezeigt: Durch die Nichtablösung von Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) und durch die Bestellung von Innenminister Gerhard Karner (ÖVP). Karner ist zwar schwarz durch und durch, bringt aber keinen vernünftigen Satz zur Rolle des Austrofaschisten Engelbert Dollfuß zusammen.

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