ANALYSE. Andreas Babler hat nur eine Überlebenschance in der Bundespolitik: Er muss Kanzler werden.
Einerseits war es Wahnsinn, was Andreas Babler im ORF-Sommergespräch gemacht hat: Er hat Genossinnen und Genossen gemaßregelt, die für ein Politikverständnis von gestern stehen; namentlich etwa den Donaustädter Bezirksvorsteher Ernst Nevrivy, Stichwort Kleingartenaffäre. Damit hat er sich erst recht Gegner gemacht. Andererseits hat er das gepflegt, was beim Zustand der Sozialdemokratie (schier) einzig möglich ist: Er hat sich quasi als Antikörper zu einer Partei dargestellt, die von vielen Menschen nicht mehr gewählt wird.
Bei aller Unvergleichbarkeit erinnert das an die ÖVP und Sebastian Kurz. Unterschied eins: In diesem Fall hat die Partei vor sieben Jahren geschlossen festgestellt, dass sie fertig ist. Sie hat Kurz daher ausdrücklich erlaubt, zu tun und zu lassen, was ihm gefällt, die Organisation umzufärben und ihr gerne auch einen etwas anderen Namen zu geben („Neue Volkspartei“), vor allem aber, sich allein in den Vordergrund zu stellen. Unterschied zwei: Zur Einsicht etablierter Funktionärinnen und Funktionäre, dass sie nichts mehr zusammenbringen und es daher besser ist, das alles einem jungen Mann zu überlassen, kam das Wissen hinzu, dass er große Wahlerfolge bringen kann.
Die SPÖ ist als Volkspartei im Sinne einer Massenpartei, die in allen Gegenden und Bevölkerungsschichten nennenswerten Zuspruch genießt, fertig. Nicht einmal bei Arbeitern kommt sie auf eine relative Mehrheit. Ein Phänomen bleibt die Wiener SPÖ, die es noch am ehesten schafft, breit aufgestellt zu sein. Relevant sind im Übrigen natürlich Gewerkschafter:innen und, nicht zu vergessen, die Burgenländer, denen nach wie vor eine Absolute zuzutrauen ist. Wobei: Sie liefern kein Modell, das sich anbietet, kopiert zu werden; bundesweit und vor allem in größeren Städten wäre es schwer, damit zu punkten. Hans Peter Doskozil steht für ein ländliches Österreich.
Ein Aspekt, der SPÖ und ÖVP gleichermaßen seit Jahren zu schaffen macht und zwischendurch erwähnt gehört, ist die zunehmende Fragmentierung der Gesellschaft. Vereinfacht ausgedrückt: Die eine Zielgruppe, die gleiche Anliegen und Bedürfnisse hat, gibt es weniger denn je.
Die Kür von Babler an die Spitze der Sozialdemokratie stand für eine Sehnsucht nach einem neuen Stil und einer linken Politik, die verloren gegangen ist. Eher haben in den vergangenen Jahren Schwarze und Grüne von einer Gesamtschule gesprochen als Rote. Die Forderung nach einer Vermögensbesteuerung, die ihnen natürlich entsprechen würde, haben sie selbst schon nicht mehr ernst genommen. Babler hat das alles vergessen gemacht.
Insgeheim werden vielleicht 99 Prozent in der Partei finden, dass seine Forderungen eh super sind, für einen erheblichen Teil überwiegt aber, dass die ÖVP nein sagt dazu. Es ist absurd: Die ÖVP ist ja selbst dabei, zu ertrinken. Unterschied drei: Sie ist schon weiter und sich dessen bewusst. Als Sebastian Kurz gehen musste, hatte sie ein Schlüsselerlebnis: Sie musste erkennen, dass es jetzt aber wirklich aus und vorbei sein könnte mit ihr. Immerhin war sie ohne Kurz noch Kurz (türkis, rechtspopulistisch). Mit Karl Nehammer, der so ziemlich die übelsten Persönlichkeitswerte hat, die ein Kanzler jemals hatte.
In seiner Partei weiß man aber, dass man froh sein muss, dass wenigstens er da ist. Zumal Herbert Kickl noch üblere Werte hat (71 Prozent misstrauen ihm), könnte er sie ja vielleicht sogar auf Höhe der FPÖ bringen am 29. September, so das Kalkül. Das hält die Reihen dicht.
In der SPÖ wollen Leute wie Hans Peter Doskozil, Georg Dornauer, Sven Hergovich und Doris Bures noch nicht wahrhaben, wie es um die Partei bestellt sind. Sie verfügen daher nicht einmal über die Souveränität, für sich festzustellen, dass sie Babler zwar für ungeeignet halten, jetzt aber eine wichtige Wahl vor der Tür steht und sie sich daher professionell wie unmissverständlich hinter ihn zu stellen haben. Das zeigt, dass die Sozialdemokratie offenbar erst tiefer fallen muss, damit relevante Teile kapieren, was es geschlagen hat.
Und Babler: Er weiß wohl, dass er nichts mehr zu verlieren hat. In Wirklichkeit ist es so: Kann er sich nicht ins Kanzleramt retten, ist er weg. Allein das könnte ihm für eine gewisse Zeit die Stärke geben, die er braucht, um sich gegen all jene Genossinnen und Genossen zu behaupten, die ihn ablehnen und die dies jetzt erst recht tun, da er sie im Sommergespräch so gemaßregelt hat.
Voraussetzung dafür wäre, dass die SPÖ vor der ÖVP ins Ziel kommt und die ÖVP im Sinne eines „Gebens und Nehmes“ bereit ist, ihm ein paar Erfolge zu gönnen. Aber das ist eine andere Geschichte.