ANALYSE. Warum man die Umfrageergebnisse jetzt aber wirklich vergessen sollte: Weil es ziemlich viele Dinge gibt, die neu ins Spiel kommen.
Über die Qualität einiger Meinungsumfragen zur Nationalratswahl ist an dieser Stelle schon geschrieben worden. Zum Beispiel unter dem Titel „Fragewürdig hoch 2“. Geändert hat sich daran nichts. Im Gegenteil, es sind spannende Analysen zum Thema dazugekommen. Der Politikwissenschaftler Laurenz Ennser-Jedenastik hat im Standard darauf hingewiesen, dass die veröffentlichten Ergebnisse einander ähnelten; und zwar „verdächtig“. Sie wissen schon. Wie damals vor der ersten Runde der Bundespräsidentenwahl im vergangenen Jahr: Für Alexander Van der Bellen wurden in den drei letzten Erhebungen vor dem Urnengang zweimal 26 und einmal 25 Prozent ausgewiesen. Bei Norbert Hofer waren es zweimal 24 und einmal 22 Prozent. Erreichen sollte er letzten Endes jedoch 35 Prozent, während sich Van der Bellen mit 21 Prozent begnügen musste.
Viel mehr ist dazu nicht zu sagen. Außer eine „Entschuldigung“ für die Meinungsforscher: Wenn so viel in Bewegung ist, wie damals, dann muss man mit weniger als 1000 schnell Befragten daneben liegen. Dann wären wohl viel mehr persönliche Tiefeninterviews nötig, um etwa auch feststellen zu können, wie fix sich der eine oder andere entschieden hat, wohin es ihn allenfalls sonst noch ziehen könnte und wie das auch bei den überhaupt noch Unentschlossenen so ausschaut.
Es ist nämlich extrem viel in Bewegung. Grob gesagt kann man davon ausgehen, dass sich erst die Hälfte der Wähler bereits definitiv entschieden hat; und es sich alle übrigen noch einmal anders überlegen könnten oder sich überhaupt erst Gedanken über den 15. Oktober machen müssen.
Also geht’s jetzt erst zur Sache. Wobei es natürlich eine Ausgangslage gibt, derzufolge die Neue Volkspartei von Sebastian Kurz ziemlich weit vor den Sozialdemokraten von Christian Kern und den Freiheitlichen von Heinz-Christian Strache liegen dürfte. Und Grüne, Peter Pilz und die NEOS um ihren Verbleib im Hohen Haus kämpfen müssen.
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Das ist jedoch wie gesagt die Ausgangslage, auf deren Grundlage es jetzt erst zur Entscheidung geht. Und da gibt es plötzlich ganz andere Fragestellungen. Zum Beispiel: Sebastian Kurz kann nicht mehr nur als derjenige strahlen, der in der ÖVP aufgeräumt hat und überhaupt wirkt, als würde er mit einem ungeliebten System brechen wollen (was ihm naturgemäß sehr viel Zuspruch eingebracht hat). Er ist jetzt vielmehr auch der ernstzunehmende Kanzlerkandidat, der in TV-Duellen und bei anderen Gelegenheiten zeigen muss, dass er die Republik führen könnte. Und das ist etwas ganz anderes. Zumindest eine neue Herausforderung für Kurz, die er wie die vorhergehenden bewältigen kann. Aber nicht muss.
Bei FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache sieht man, wie schwierig das ist: So lange er sich für Proteststimmen anbieten konnte, war er erfolgreich. Als er sich dann bei der Wiener Gemeinderatswahl 2015 erstmals selbst für die Führung (bzw. das Bürgermeisteramt) anbot, scheiterte er an diesem Ziel – wohl auch für ihn selbst – überraschend kläglich.
Wenn Mitte-Rechts ein solches Gedränge herrscht, bleibt daneben ziemlich viel übrig.
Daneben gibt es noch ein paar andere Dynamiken, die an dieser Stelle zum Teil schon beschrieben worden sind: Gelingt es Strache, wieder Tritt zu fassen, ist das vor allem für Kurz eine Gefahr; er hat dem Freiheitlichen zuletzt die meisten Wähler abgenommen. Ähnliches gilt für die NEOS: Sie haben ein paar ernstzunehmende ÖVP-Vertreter für sich gewonnen (Heinrich Neisser, Erhard Busek, Ferry Maier); womit das eine oder andere Prozentpunkt der bürgerlichen Wählerschaft mitfolgen könnte.
Was summa summarum sogar Christian Kern wieder ins Spiel bringen kann: Wenn Mitte-Rechts ein solches Gedränge herrscht, bleibt daneben ziemlich viel übrig. Was er offensichtlich erkannt hat und daher versucht, mit „Mietobergrenzen“, einem Limit für Managergehälter und anderem mehr entsprechende Signale auszusenden. Zu spät? Möglicherweise. Wenn aber so viel in Bewegung ist, wie in den verbleibenden drei Wochen bis zur Wahl, dann ist letzten Endes für alle fast alles drinnen; dann liegt es nämlich nicht nur an ihnen selbst.
Was man nicht vergessen sollte: Bei den Bundespräsidentenwahlen gab es eine Mehrheit gegen rechts.
Womit wir noch einmal zu den Bundespräsidenten-Wahlen des vergangenen Jahres zurückkehren sollten. Damals gab es bei der ersten und der zweiten Stichwahl eine Mehrheit gegen rechts; gegen einen antieuropäischen Grenzen-zu-und-Protest-über-die-Flüchtlingspolitik-Kurs. Das sollte man nicht vergessen. Zumal nichts dafür spricht, dass diese Mehrheit kleiner geworden ist; im Gegenteil, die Stimmungslage in Österreich verbessert sich von Monat zu Monat so sehr, dass sie heute deutlich größer sein dürfte. Wobei allemal noch 30 oder 35 Prozent für die Neue Volkspartei von Sebastian Kurz bleiben könnten; aber eben nur, wenn die Freiheitlichen schwächeln.
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