ANALYSE. Die SPÖ-Vorsitzende kann sich nicht allein darauf verlassen, dass die Volkspartei wegbricht; zumal die Freiheitlichen zulegen. Sie muss sich um eine Wendestimmung bemühen.
Der Satz, der in mehreren Medien zitiert ist, offenbar also auf einer Agenturmeldung beruht, wirkt schwer beunruhigend: „Europa stehe wahrscheinlich ,vor der größten Herausforderung in der Geschichte‘ und das Wesentliche sei, nichts unversucht zu lassen, um die Ukraine und Russland an den Verhandlungstisch zu bringen.“ Zugeschrieben ist er SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner, ausgesprochen habe sie ihn im Rahmen ihres Besuchs beim deutschen Kanzler Olaf Scholz (SPD) in Berlin.
Man muss nur fünf Sekunden an die Geschichte Europas denken, um sich zu fragen, ob das sein kann. Natürlich, möglich ist alles. Zu gerne wüsste man daher, womit Rendi-Wagner rechnet. Vielleicht handelt es sich aber auch nur um ein Missverständnis: Anfang Mai erklärte sie, die Europäische Union stehe vor der vielleicht größten Herausforderung seit ihrer Gründung. Das dürfte jedenfalls hinkommen, klingt schon ganz anders, um nicht zu sagen logisch. Kann es sein, dass sie genau das jetzt auch in Berlin gemeint hat?
Das Fragezeichen steht für ein Risiko, das mit der Strategie einhergeht, auf die sich die SPÖ-Vorsitzende eingelassen hat: Selbst möglichst allgemein, um nicht zu sagen vage bleiben; ja nichts fordern, was auf größeren Widerspruch stoßen und daher Wählerstimmen kosten könnte. Bisher ist das aufgegangen: Liefern müssen jene, die in Regierungsverantwortung stehen. Und da hat sich die ÖVP selbst eine schwere Krise beschert, die sie nach dem Sebastian-Kurz-Rücktritt um ein Drittel auf rund 25 Prozent abstürzen und zuletzt eher noch weiter zurückfallen ließ. Da scheint Rendi-Wagner einfach nur den nächsten Wahltag abwarten zu müssen, damit sie gewinnen und ins Kanzleramt einziehen kann.
So einfach ist die Sache aber nicht. Eine steigende Tendenz weist auch die FPÖ auf. Die Aussichten für Herbert Kickl und Co. sind zudem günstig: Teuerung schafft Unmut und Unmut ist ein Stimmenbringer für die FPÖ. Bei der Bundespräsidenten-Wahl im Herbst kann sie sich mit einer Kandidatin oder einem Kandidaten mehr oder weniger allein all jenen anbieten, die Amtsinhaber Alexander Van der Bellen ablehnen.
These: Rendi-Wagner muss, gerade wenn sie darauf hinweist, dass bevorstehende Herausforderungen riesig sind, konkret werden. Sie muss skizzieren, was sie erwartet und welche Schlussfolgerungen sie daraus zieht. Sonst verstärkt sie eine gewisse Unsicherheit und erzeugt das Gegenteil dessen, was sie braucht, um ihre Chancen abzusichern: eine Wendestimmung.
Wenn die ÖVP über 20 Prozent bleibt und die FPÖ in diese Größenordnung zurückkehrt, ist es nicht weit zu einer relativen türkis-blauen Mehrheit auf parlamentarischer Ebene, gegen die nichts zu machen ist; vor allem, wenn eine Liste, wie MFG, den Sprung ins Hohe Haus schafft. Ob dann eine türkis-blaue Koalition zustande kommt oder nicht, ist nebensächlich: Allein die Möglichkeit würde Rendi-Wagners Position schwächen.
Dafür, dass es in Österreich eine Nachfrage nach einer neuen Politik geben würde, sprechen die katastrophalen Vertrauenswerte des Systems (Regierung, Parlament etc.) und seiner Repräsentanten (insbesondere des Nationalratspräsidenten). Abgesehen davon würde es auch einen Bedarf dafür geben. Selten noch hat es einen so großen und vor allem anhaltenden Reformstillstand, z.B. im Bildungsbereich, gegeben, ist die Notwendigkeit, Korruption umfassend zu bekämpfen, so offensichtlich gewesen, aber ignoriert worden.
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