ANALYSE. Das Problem der Volkspartei ist, dass sie keine wahrnehmbare Mitte mehr hat. Es verschärft die Orientierungslosigkeit nach Kurz. Die Mitte zeigt sich eher im Heimatbegriff von Van der Bellen oder bei den Neos. Also anderswo.
Wenn man, zum Beispiel nach der „ÖVP-Selbstkritik“ durch Ex-Generalsekretärin Laura Sachslehner, von einem Richtungsstreit in der Volkspartei spricht, muss man aufpassen. Es setzt unterschiedliche Lager mit klaren Orientierungen voraus. Eines, das im Geiste von Sebastian Kurz etwa wieder stärker zu einem rechtspopulistischen Kurs übergehen will und eines, dass sich in einer bürgerlichen, vielleicht auch christlich-sozialen Mitte positioniert. Zumindest ein solches (oder auch ein anderes, nicht-rechtspopulistisches) Lager ist jedoch kaum wahrnehmbar.
Das ist das Problem der ÖVP. Reinhold Mitterlehner ist dabei gescheitert, sich um die Mitte zu bemühen. Durch Kurz war dieses Kapitel erledigt, ließ man sich in der Partei durch Wahlerfolge berauschen, die seiner Strahlkraft sowie einer Politik zu verdanken war, die in wesentlichen Zügen an die der FPÖ angelehnt war. Die gerne von „Werten“ wie „Leistung“ sprach, „Leistung“ aber eher nur im Sinne von Kürzungen für Menschen meinte, die darauf angewiesen wären. Oder in dem Sinne, dass man sich frei nach Sachslehner die österreichische Staatsbürgerschaft erst „verdienen“ muss. All das war ausschließlich gegen gewisse Gruppen gerichtet, gegen Asylwerber im Besonderen und Ausländer im Allgemeinen. Es war nicht bürgerlich, sondern bösartig. Bürgerliches, wie Bildung, spielte keine Rolle. Daher gibt es seit einer gefühlten Ewigkeit auch keine Reformpolitik mehr dazu.
Jetzt ist Kurz weg, wird erst deutlich, wie wenig da ist. Ein bürgerliches Lager, das der Partei eine Perspektive bieten könnte, muss man lange suchen. Beschränken wir uns daher auf die wichtigsten Repräsentanten der ÖVP: Karl Nehammer? Geizt so sehr mit Ideen, dass man nicht weiß, ob er welche hat oder ob er sie nur nicht zum Ausdruck bringen möchte. Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner? Ist bemüht, es sich mit Rechten nicht zu verscherzen, lässt daher einen FPÖ-Landesrat Gottfried Waldhäusl gegen Flüchtlinge vorgehen und hütet sich, zu sagen, wen sie bei der Bundespräsidenten-Wahl unterstützen wird. Oberösterreichs Landeshauptmann Thomas Stelzer? Koaliert mit der FPÖ, schluckt alles bzw. geht schon dazu über, Forderungen wie jene nach Aufhebung der Sanktionen gegen Russland in Ansätzen zu übernehmen. Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer tut das ebenfalls, ist abgesehen davon vielleicht aber der Gemäßigste unter den Genannten: Das Bürgerliche beschränkt sich in seinem Fall darauf, Interessen überwiegend bürgerlicher Gruppen (Unternehmer) zu vertreten. Das ist nur indirekt bürgerlich. Eher bürgerlich könnte es sein, den Einfluss des Staates zurückzudrängen und etwa auch die Pflichtmitgliedschaft bei der Wirtschaftskammer zu beseitigen; das aber wird Mahrer nicht liefern.
Vielleicht hat sich das Bürgerliche im Laufe der Zeit mehr und mehr verabschiedet, zeigt es außerhalb der ÖVP ein Gesicht. Beispiel Alexander Van der Bellen. Schon bei der Bundespräsidenten-Wahl 2016 hat er demonstriert, dass man sich nicht bei Freiheitlichen anbiedern muss, um zu gewinnen. Um zu gewinnen muss man aber jedenfalls eine Mitte der Gesellschaft ansprechen. Van der Bellen hat dies getan, indem er einen positiven Heimat-Begriff lebte. Das hat nicht wenigen Bürgerlichen gefallen. Umso bemerkenswerter ist es, dass vom Boden- bis zum Neusiedlersee niemand aus der Partei dazu übergegangen ist, dass (sichtbar) ebenfalls zu tun.
Andererseits: Vielleicht sind viele, die dafür infrage gekommen wären, schon weg. Ein Blick in die SORA-Analyse zur Nationalratswahlen 2019 zeigt Bemerkenswertes: Die Neos haben der neuen Volkspartei von Kurz damals netto (!) rund 70.000 Stimmen abgenommen. Der Volkspartei wohlgemerkt, die triumphierte. Das aber hatte eben seinen Preis – eine Schwächung in der Mitte zugunsten der Neos z.B.. Auch im Hinblick auf die Tiroler Landtagswahl am 25. September und eine fiktive Nationalratswahl am kommenden Sonntag verheißen Umfragen den Pinken mit Beate Meinl-Reisinger an der Spitze relativ starke Zugewinne. In Prozent (nicht -Punkten) sogar größere als den Freiheitlichen. Das heißt was.