Neuvermessung der Innenpolitik

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ANALYSE. Antisemitische Anschläge und Vorfälle stellen in dieser Dichte ebenso eine Zäsur für Österreich dar wie die Deutlichkeit der Reaktionen. Am Ende könnte die Demokratie doch noch einmal gewinnen.

„Ich verurteile den Anschlag auf den jüdischen Friedhof in Wien auf das Schärfste“, twitterte Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) wenige Stunden nach dem Brandanschlag am Zentralfriedhof, bei dem die bisher unbekannten Täter auch Wände mit Hakenkreuzen beschmiert hatten. Ähnliches kam auch von den Vorsitzenden von SPÖ, Grünen und Neos, Andreas Babler, Werner Kogler und Beamte Meinl-Reisinger sowie vom freiheitlichen Generalsekretär Christian Hafenecker.

„Nie wieder ist jetzt“, heißt es außerdem immer wieder. Selbstverständlich ist das Selbstverständliche nicht. Österreich pflegte zu lange einen befremdlichen Umgang mit Antisemitismus. Ex-Kanzler Sebastian Kurz stand zwar für eine politische Annäherung an Israel, Identitäre oder die Liederbuchaffäre hierzulande fand er jedoch nur „widerlich“. Widerlich: Ein seltsamer Begriff in diesem Zusammenhang, zumal es mehr oder weniger bei ihm allein geblieben ist. Nachfolger Karl Nehammer ist im Unterschied dazu klar: Nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober machte er nicht nur deutlich, dass die von Kurz eingeleitete Annäherung an Israel ernstgemeint ist, indem er uneingeschränkte Solidarität im Kampf gegen Terrorismus betonte; er reagierte auch hart auf die jungen Leute, die die israelische Fahne beim Portal der Wiener Hauptsynagoge heruntergerissen haben. Botschaft: Das war kein Lausbubenstreich.

Gerade in Österreich muss man immer skeptisch bleiben: Könnte es sein, dass Sich-gegen-Antisemitismus-stellen gerade so ausgeprägt ist, weil man davon ausgeht, dass es sich eher um islamischen Antisemitismus handelt? Also nicht um klassischen rechten Antisemitismus im Sinne einer nationalsozialistischen Wiederbetätigung? Dass sich das besser mit restriktiver „Migrationspolitik“ verbinden lässt?

Und wenn: Mittlerweile ist vom Bundespräsidenten abwärts bzw. von weiten Teilen der österreichischen Politik Antisemitismus so umfassend verurteilt worden, dass sich diese Frage nicht erübrigt, aber relativiert. Es ist nämlich so: Hier könnte gerade Zeitgeschichte geschrieben werden.

Das Video der freiheitlichen Jugend war schon unsäglich, als es im September bekannt wurde. Unter anderem die Journalisten Armin Wolf und Florian Klenk wurden sichtbar zu Feindbildern erklärt. Und zum Schluss folgte die Kamera den Blicken strammer Funktionäre zum Führerbalkon auf der Wiener Hofburg. Man stelle sich vor, diese Szenen würden jetzt, eingebettet in eine ganz andere Nahrichten- und Ereignislage, viral gehen. Sie hätten eine ganze andere Wirkung. Herbert Kickl könnte es sich nicht mehr leisten, damit zu sympathisieren.

Der Mann steht jetzt überhaupt unter Druck: Dass er sich seit dem Frühjahr als „Volkskanzler“ bezeichnet, entpuppt sich als potenziell verhängnisvoll für ihn. Schlimmer für ihn: Er und Seinesgleichen haben nicht kapiert, dass gerade eine politische Ernsthaftigkeit, ein stärkeres politisches Bewusstsein für die Bedeutung von Worten und Signalen herrscht.

Unter Kickl haben sich Freiheitliche wieder mit Identitären angefreundet. Werden Leute wie der oö. Landesobmann Manfred Haimbuchner schon übermütig und erklären, dass bei einem Kanzler Kickl „einige das Benehmen lernen“ würden: „vom Journalisten bis zum Islamisten“. Oder lässt ein Pressesprecher der Partei den Kabarettisten und Kolumnisten Florian Scheuba wissen, was ihn offensichtlich ebenfalls unter einem solchen Kanzler erwarte: „2024 werden Sie nur mehr beim AMS auftreten.“ Das sind unverhohlene Drohungen. Hier kann es jemand nicht erwarten, zum eisernen Besen zu greifen.

Es ist alles andere als sicher, aber möglich, dass all diese Grenzüberschreitungen jetzt, da für so große Teile der österreichischen Politik wie noch nie klar ist, dass es bei Antisemitismus kein Auge-zudrücken gibt, stärker denn je ebenfalls als Grenzüberschreitungen benannt werden müssen; zumal eines zum anderen führt. Im besten Fall führt das zu einer Kultur, in der alle wissen, was geht und was nicht geht in einer Demokratie.

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