ANALYSE. Entscheidende ÖVP-Politiker:innen haben begonnen, sich vom Kanzler abzusetzen. Konsequenzen nehmen sie in Kauf, maßgebend für sie ist wachsendes Unverständnis in der Bevölkerung.
Hermann Schützenhöfer war der letzte ÖVP-Landeshauptmann, der sich immer und immer wieder klar und deutlich hinter den Kanzler und Bundesparteiobmann gestellt hat. „Ich bin überzeugt, für die ÖVP kommen wieder bessere Zeiten, auch unter Karl Nehammer. Der macht seine Sache sehr gut, siehe Ukraine“, erklärte er Anfang Juli in einem Interview mit der Tageszeitung „Der Standard“. Für Nehammer ist das wertlos geworden. Schützenhöfer ist mittlerweile in Pension, und keine wichtige ÖVP-Politikerin, kein wichtiger ÖVP-Politiker stellt sich noch so deutlich hinter ihn. Immer mehr setzen sich vielmehr ab, um sich selbst (politisch) zu retten. Regierungsmitglieder oder ein Mann wie Klubchef August Wöginger kann man diesbezüglich nicht als Ausnahmen betrachten: Sie haben eher nur eine dienende Funktion gegenüber dem Regierungschef, spielen im Hinblick auf dessen Schicksal eine Nebenrolle.
Entscheidend sind (in dieser Reihenfolge) die Landeshauptleute Johanna Mikl-Leitner – sowie mit Abstand – Thomas Stelzer (OÖ), Wilfried Haslauer (S) und Schützenhöfer-Nachfolger Christopher Drexler, der mit der Steiermark zwar ein großes ÖVP-Land führt, sich sein Gewicht aber erst erarbeiten muss. Von Relevanz ist im Übrigen noch Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer (ÖVP).
Ausgerechnet die Genannten setzen sich von Nehammer ab. Den Anfang machte Mahrer Ende der vergangenen Woche, als er in einem „Kurier“-Interview begann, die EU-Sanktionen gegen Russland infrage zu stellen. Zusammengefasst sieht er zwei Probleme: „In Österreich wurde es versäumt, der Bevölkerung zu sagen, was der Preis dafür ist.“ Und auf europäischer Ebene hat man zu spät der Bewältigung eines drohenden Energienotstands in Angriff genommen.
Das ist auch eine Breitseite gegen Karl Nehammer: Als Kanzler trägt er die Hauptverantwortung dafür, dass den Bürgerinnen und Bürgern die Notwendigkeit von Sanktionen erklärt wird; in Brüssel entscheidet er persönlich mit über ihre Ausgestaltung. Gegenüber dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj betonte Nehammer im April bei einem Besuch in Kiew, dass Österreich die Sanktionen mittrage so lange der Krieg andauere. Begründungen dafür lieferte er eher nicht gegenüber die Bevölkerung, sondern allenfalls gegenüber Wladimir Klitschko: Das ukrainische Volk sei „so tapfer und wehrhaft, um für unsere Werte und Freiheit zu kämpfen“. Heißt im Umkehrschluss: Durch den russischen Angriffskrieg, den Nehammer in aller Deutlichkeit verurteilt, werden unsere Werte gefährdet. Dem muss man sich entgegenstellen. Auch wenn das sehr viel kostet. Der Haken daran ist folgender: Dieser Gedanke ist von Nehammer nicht ausformuliert, er wird von ihm nicht so weitererzählt, dass eine Masse in Österreich findet, die Sanktionen sind schmerzlich, aber nötig.
Im Gegenteil: Eine Wirtschafts- und Sozialkrise vor Augen, beginnt sich Unverständnis breit zu machen. Mahrer verkörpert eine Antwort darauf: Er sagt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht, was er allein sich denkt, sondern was in der Unternehmerschaft artikuliert wird. Man kann ihm vorwerfen, sich nicht dagegenzustellen, sondern Nehammer vorzuführen, aber Nehammer hat durch die erwähnten Versäumnisse zu diesem Unverständnis beigetragen.
Ähnlich wie bei Mahrer verhält es sich bei Mikl-Leitner. Bei ihr kommt das nur noch schärfer, noch deutlicher zum Ausdruck. Die Frau steht vor einer Landtagswahl, hat fast 50 Prozent zu verteidigen, hält zurzeit aber nur rund 40 Prozent mit ihrer Partei. Sie steht persönlich unter Druck: Auf der einen Seite eine Bevölkerung, die zunehmend nervös bis aufgebracht ist, auf der anderen Seite eine Bundesregierung, die ebenso dazu beiträgt wie sie, Mikl-Leitner, es unlängst getan hat, als sie (zum Klimaschutz) erklärte, dass drei statt zehn Ballkleider genügen würden.
All das macht der Landeshauptfrau zu schaffen. Zunächst entschuldigte sie sich für die Ballkleid-Aussage per Leserbrief in der „Kronen Zeitung“. Dann wechselte sie in die Oppositionsrolle gegen Nehammer, den sie vor etwas mehr als einem Jahr als Kanzler und ÖVP-Chef durchgesetzt hatte. „Es braucht eine klare Führung in der Regierung“, sagte sie etwa. Sprich: Es gibt jetzt keine durch diesen Kanzler. Außerdem forderte sie einen Strompreis-Deckel, den Nehammer ausdrücklich ablehnt; den sich mittlerweile aber auch die Landeshauptleute Stelzer, Haslauer und Drexler vorstellen können.
Nicht einmal der Versuch von Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP), die Sache zu retten, glückte. Er bemüht sich, die Deckel- zu einer europäischen Frage umzuleiten, doch Mikl-Leitner erwiderte, dass dort wohl nicht so schnell eine Lösung zustande kommen werde. Deshalb müsse man „bei uns nachdenken“ und da dürfe es eben „keine Denkverbote geben“.
Konsequenzen? Sind für die Landeshauptleute nebensächlich. These: Sie haben sich Folgen und Wirkung einer nationalen Strompreisregelung nicht weiter überlegt. WIFO-Chef Gabriel Felbermayr hat in der ZIB2 vor unliebsamen Nebenwirkungen gewarnt, aber immerhin einen anderen Vorschlag gemacht (demnach sollten Haushalte z.B. nur noch 20 Prozent der Rechnung tragen müssen, der große Rest würde ihnen geschenkt werden).
Mikl-Leitner und Co. sind Getriebene: Im Unterschied zu einem Kanzler sind sie auf Volksfesten und bei Eröffnungen (fast) täglich unter den Leuten. Sie bekommend die Stimmungslage unmittelbar mit. Für sie steht im Vordergrund, dass sich diese Stimmungslage wieder entspannt. Dass die Leute weniger zahlen müssen. Wie das geregelt wird, ist ihnen egal, solange der Bund dafür aufkommt. Im Falle des Falles scheuen sie sich nicht, Ideen wie eine staatliche Strompreisregelung aufzugreifen.
In diesem Sinne nebensächlich ist für sie auch geworden, wie es mit Nehammer und der Koalition weitergeht. Wichtig ist ihnen, damit nicht länger in Verbindung gebracht zu werden. Indem sie sich kritisch bis ablehnend äußern, erreichen sie dies. Wobei das Ergebnis absehbar ist: Ohne Rückhalt durch große Landesorganisationen und ihre Nationalratsabgeordneten in so wichtigen Fragen kann Nehammer erst recht nicht mehr führen, rückt das Ablaufdatum von Türkis-Grün noch viel näher. Das nehmen die Landeshauptleute in Kauf. Für sie würde es darauf hinauslaufen, mit einer Belastung weniger konfrontiert zu sein.
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