ANALYSE. Beim künftigen EU-Kommissionsmitglied gehört die Europawahl nicht vollkommen ignoriert. Auch Nehammer hätte gute Gründe, das Ergebnis zu berücksichtigen.
Die FPÖ lässt wieder einmal durchblicken, dass sie sich einem Geist des Mehrheitswahlrechts verpflichtet fühlt, wonach dem Gewinner allein die ganze Macht zufällt. Selbst wenn er nur ein Viertel der gültigen Simmen bekommt, wie die Partei soeben beim Urnengang zum Europäischen Parlament: Man sei als Erster über die Ziellinie gegangen und habe daher das Recht, zu bestimmen, wer aus Österreich künftig der Europäischen Kommission angehören wird, so Generalsekretär Christian Hafenecker. Sein Vorschlag: Susanne Fürst als „Remigrationskommissarin“.
Das ist vielfach daneben und zeigt, dass es nicht ernst gemeint sein kann: Welche Zuständigkeit das Kommissionsmitglied bekommen wird, ist vollkommen offen. Zweitens: Regierung und Hauptausschuss des Nationalrats bestimmen den Kandidaten, die Kandidatin. Es gibt keinen zwingenden Grund, dabei Rücksicht auf das EU-Wahlergebnis zu nehmen. Einerseits.
Andererseits gibt es keinen vernünftigen Grund, warum die ÖVP in der Sache de facto allein entscheiden sollte. Natürlich: Grüne haben ihr das einst zugestanden. Sie mögen, wie ihr Chef Werner Kogler in einem Interview mit der „Tiroler Tageszeitung“ gerade deutlich gemacht hat, glauben, dass das nicht mehr gilt. Ihr Wort haben sie jedoch gegeben. Womit alle Voraussetzungen für eine Einstimmigkeit in der Regierung sowie eine Mehrheit im Hauptausschuss gegeben sind.
Aber: Landauf, landab sind die Leute in den vergangenen Wochen ermuntert worden, an der europäischen Richtungsentscheidung, der Wahl am 9. Juni, teilzunehmen. Insofern wäre es klug, nicht gar so zu tun, als habe es keinen Urnengang gegeben. Könnte Nehammer seiner Aussage gerecht werden, die Botschaft verstanden zu haben, die mit dem Minus von zehn Prozentpunkten für seine Partei einhergeht. Könnte er also davon absehen, jemanden aus dem innersten Kreis der ÖVP zu nominieren. Ob Finanzminister Magnus Brunner oder Verfassungsministerin Karoline Edtstadler etwa.
Es wäre ein verheerendes und ein kurzsichtiges Signal, Brunner oder Edtstadler etwa nach Brüssel zu schicken: Herbert Kickl würde herumrennen und sagen, jetzt sehe man, wie sehr die ÖVP auf die Wähler pfeife, wie sehr sie sich an die Macht klammere und versuche, die FPÖ davon fernzuhalten. Mit einem Satz: Nehammer würde Kickl eine unnötige Angriffsfläche bieten.
Außerdem: Wenn man sich die türkise Regierungsriege anschaut, dann gibt es sehr viel Mittelmäßigkeit. Innenminister Gerhard Karner, Bildungsminister Martin Polaschek und Verteidigungsministerin Klaudia Tanner zum Beispiel. Brunner und Edtstadler gehören gemessen daran zu den besseren.
Kann Nehammer sie oder ihn ziehen lassen? Es wäre riskant: Er möchte Kanzler bleiben und braucht dafür auch ein Team bei der Nationalratswahl. Zumal die Erfolgsaussichten begrenzt sind, wird er kaum eine neue Lichtgestalt finden, die sich anbietet, allenfalls an seiner Seite einer künftigen Regierung anzugehören. Da muss er froh sein, wenn er zumindest Brunner und Edtstadler hat. Es reicht, wenn sich Wirtschaftsminister Martin Kocher schon fix in die Nationalbank verabschieden wird.
Wie hier in einem Beitrag für das Nachrichtenmagazin „News“ vor der Europawahl ausgeführt, wäre es naheliegend für den ÖVP-Chef, eine Person vorzuschlagen, die seinen Vorstellungen für Europa gerecht wird, derzeit kein politisches Mandat bekleidet und von einer breiten Mehrheit akzeptiert werden kann. Freiheitlichen wird er dabei nie entsprechen können, neben Grünen sehr wohl aber Neos und Sozialdemokraten. Damit könnte er auch signalisieren, Kanzler einer breiteren Mehrheit zu sein als der sogenannte „Volkskanzler“-Kandidat Herbert Kickl.