ANALYSE. Der Bundeskanzler bemüht sich nicht einmal um nötige Mehrheiten für einen Umbau der Republik. Das zeigt, dass er es kaum auf eine volle Legislaturperiode angelegt haben kann.
Irgendetwas stimmt hier nicht: Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) ist angetreten, Österreich umzubauen und dann beschränkt er sich auf schwarz-blaue Alleingänge und einfache Mehrheiten auf parlamentarischer Ebene. So können den Worten keine großen Taten folgen. Siehe Sozialversicherungsreform. Was mit Sicherheit auch Kurz selbst weiß. Und das denn auch kein Dauerzustand sein kann.
Bisher ließ sich zumindest die Wahlkampagne vom vergangenen Herbst ja ziemlich erfolgreich fortsetzen. Ließen sich Signale gegen eine Zuwanderung ins Sozialsystem ebenso setzen (Mindestsicherung), wie für eine gewisse Deregulierung (Streichung aller Gesetze) oder gegen eine weitere Flüchtlingswelle („Albanienroute“). Und überhaupt: Noch nie wurde auf Regierungsebene so wenig gestritten, gab es einen so harmonischen Koalitionsalltag. Was für sehr viele schon unschätzbar viel ist.
Wer Österreich umbauen will, braucht Zweidrittelmehrheiten auf parlamentarischer Ebene. Das kann der eine oder andere bedauern, ist aber so.
Das aber kann es in Wirklichkeit nicht gewesen sein: Wer Österreich umbauen will, muss Gebietskörperschaften, Sozialpartner und – aufgrund der bestehenden Mehrheitsverhältnisse – Oppositionsvertreter ins Boot holen; muss sich auf Diskussionen einlassen. Ohne Kompromisse und Zweidrittelmehrheiten auf parlamentarischer Ebene ist ganz einfach nicht viel möglich. So ist die Verfasstheit der Republik nun einmal. Das kann der eine oder andere bedauern, ist aber so.
Also ist es umso bemerkenswerter, dass Kurz bisher Sozialpartnern bei der Sozialversicherungsreform nur ausrichtete, dass er mit Widerstand rechne und dass er zu diversen anderen Reformprojekten z.B. die für eine Zweidrittelmehrheit nötigen NEOS zu keinen Gesprächen einlud.
Dass Strolz von Kurz als Reformermöglicher nicht einmal ignoriert wurde, muss frustrierend gewesen sein für diesen.
Was unter anderem dazu führte:
- Wie erwähnt ist inhaltlich zwar nicht viel möglich, bei der Sozialversicherungsreform scheinen die Arbeitnehmervertreter die Falle aber zu registrieren: Sie halten sich zurück. Sie müssen aufpassen, sich nicht als Reformverweigerer darstellen zu lassen und Kurz damit stimmungsmäßig nur noch stärker zu machen.
- Bei den NOES hat ausgerechnet Parteigründer Matthias Strolz die Lust an seinem Job verloren. Was viele Gründe haben mag. Nachvollziehbar wäre jedoch auch dieser: Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse hatte er sich und seine Partei nach der Nationalratswahl in einer ganz entscheidenden Rolle gesehen; in der des Reformermöglichers nämlich. Kurz hat das bisher jedoch nicht einmal ignoriert. Das muss ein Stück weit auch frustrierend für Strolz gewesen sein.
Wenn Kurz also wirklich Österreich umbauen will, sich aber nicht um die nötigen Mehrheiten über Türkis-Blau hinaus bemüht, kann er diese mittelfristig nur über Wahlen für Türkis-Blau anstreben; sonst wird das nichts.
Auf eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat fehlen ÖVP und FPÖ nur zehn Mandate.
Im Moment halten ÖVP und FPÖ im Nationalrat 113 von 183 Mandaten. Auf eine Zweidrittelmehrheit fehlen gerade einmal zehn. Das ist nicht besonders viel, wenn man den Zustand der Oppositionsparteien berücksichtigt: Die SPÖ arbeitet nach wie vor an ihrer Kampagnenfähigkeit, bei den NEOS muss sich Beate Meinl-Reisinger als Strolz-Nachfolgerin erst behaupten, von der Liste Pilz braucht man jetzt gar nicht reden und die Grünen sind noch dabei, zu prüfen, wie ein Neustart für sie ausschauen könnte.
Abgesehen davon: Die Wirtschaftslage ist noch so günstig, dass die Regierung keine schmerzlichen Maßnahmen für die Masse setzen muss. Und die EU-Präsidentschaft im 2. Halbjahr 2018 bietet ihr wunderbare Inszenierungsmöglichkeiten – ganz besonders, was das wirkungsvolle Thema „Flüchtlinge“ betrifft.