ANALYSE. Mehr und mehr gehen Landeshauptleute auf Distanz zum ÖVP-Chef, erfüllen allenfalls ein Pflichtprogramm. Im Moment ist das die größte Gefahr für ihn.
Sebastian Kurz müsste zurücktreten. Das findet auch der „Kurier“. Was er im Sinne der demokratischen Kultur und des Anstandes tun müsste, ist jedoch das eine. Was er vorhat, das andere: Sich zunächst zurücklehnen, dann in Neuwahlen ziehen und einmal mehr mit der ÖVP auf Platz eins hervorgehen aus einer solchen. Für eine relative Mehrheit könnte es reichen. Das sollte man nicht unterschätzen. Auch wenn die Dynamiken etwas anders sind, als sie in bisherigen Szenarien enthalten waren: Noch gibt es nicht einmal eine Anklage. Von einem Freispruch, der es Kurz erst recht ermöglicht hätte, sich als „Politjustizopfer“ auszugeben, ganz zu schweigen. Es sind vielmehr neue, ungleich belastendere Protokolle aufgetaucht.
Und vor allem verhalten sich auch die mächtigsten Landeshauptleute ganz anders, als es der „Message Control“-Abteilung unter Stabschef Gerald Fleischmann lieb sein kann. Sie haben sich nicht mehr für die Bilder hergegeben, die man gewohnt ist.
Im „Normalfall“ – oder besser: wie vor zwei Jahren zwischen Ibiza-Video und Wahlkampfstart nach Misstrauensvotum im Hohen Haus – war Kurz in perfekt inszenierten Rahmen zu sehen. Mit jubelnden Anhängern beispielsweise. Nahelegend wäre nun jedenfalls gewesen, dass die Landeshauptleute, wenn schon in Wien, dann Kurz bei einem gemeinsamen Medien-Foto-Termin umgeben. Botschaft: „Er ist unser Mann, wir stehen hinter ihm.“ Bilder sagen mehr als 1000 Worte. Adressaten: Anhänger vom Boden- bis zum Neusiedlersee, aber auch andere Landesbürgerinnen und -bürger.
Was war Donnerstagabend stattdessen? Ein schlecht inszenierter Auftritt von ÖVP-Klubobmann August Wöginger und dem Tiroler Landeshauptmann Günther Platter im Anschluss an eine Krisensitzung des Parteivorstandes. Fragen? Keine erlaubt. Geblieben ist lediglich die Beteuerung, dass die ÖVP Kurz sei und Kurz bleibe. Für die vorhin erwähnten Anhänger kein Heuler. Das hatte eher etwas von Durchhalteparolen.
Die visuelle Zurückhaltung der meisten Landeshauptleute war das eine. Die sprachliche eine zumindest ebenso vielsagende: Natürlich haben sie alle gemeinsam in einer Aussendung betont, dass sie geschlossen hinter Kurz stünden und er weiterhin ihre Unterstützung habe. Das war’s dann aber auch schon: Sie begnügten sich mit dem Pflichtprogramm, beteiligten sich nicht an dem türkisen Spin, wonach es „linken Zellen“ darum gehe, Kurz zu „stürzen“, wie es wohl Fleischmann und Co. gefallen hätte.
Von der niederösterreichischen Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner gab es in den 48 Stunden seit den Hausdurchsuchungen in Kanzleramt, ÖVP-Zentrale und Finanzministerium nicht einmal eine „Die Vorwürfe werden sich in Wohlgefallen auflösen“-Aussage, sondern gar keine. Auch nicht pro Kurz. Der oberösterreichische Landeshauptmann Thomas Stelzer (ÖVP) distanzierte sich gar von den ständigen Angriffen auf die Justiz. Zitat laut „Krone“: „Ich habe in den letzten Monaten mehrmals betont, dass ich nichts davon halte, wenn die Justiz zur Zielscheibe von politischen Attacken wird. Ich habe großes Vertrauen in die Justiz und bin auch davon überzeugt, dass man sie jetzt in Ruhe arbeiten lassen soll.“
Der Vorarlberger Landeshauptmann Markus Waller findet in den VN die Vorwürfe gegen Kurz „schwerwiegend“ und bringt zum Ausdruck, dass er mit diesen Geschichten hinter dem Arlberg nichts mehr zu tun haben möchte, und der steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer sieht in der „Kleinen Zeitung“ ein Problem: Die Härte der Vorwürfe habe eine Dimension erreicht, „die an die Grenze geht.“
Sie werden Sebastian Kurz kaum ablösen. Sie gewähren ihm aber nicht mehr die Unterstützung, die er gewohnt ist, und die er jetzt erst recht brauchen würde. These: Landeshauptleute sind ganz gute Gradmesser. Sie zählen zu den ersten, die abspringen, wenn sie keine längerfristigen Vorteile mehr sehen für sich bzw. politisch für sie in ihrem Land. Unterstellung: Sie zweifeln zumindest daran, dass Kurz noch eine Regierung führen kann, selbst wenn er eine Wahl gewinnt. Mit wem auch?
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