Kurz getrieben

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ANALYSE. Erstmals seit Jahren ist der ÖVP-Chef nicht mehr Herr des Geschehens. Jetzt kommt es auf Grüne und Oppositionsparteien und einen gemeinsamen Nenner an, der noch sehr dürftig ist.

Alles ist im Fluss, die türkis-grüne Koalition bewegt sich auf einen Abgrund zu, das Ergebnis ist offen. Bemerkenswert ist, dass Kanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz auf einmal nicht mehr Herr des Geschehens ist: Vizekanzler und Grünen-Chef Werner Kogler hat gemeinsam mit Sigrid Maurer die Vorsitzenden der Parlamentsparteien zu einem Gespräch über das weitere Vorgehen geladen. Damit setzen sie zum Absprung an, versuchen zunächst aber zu klären, wie es ohne Kurz weitergehen könnte. Ziel ist wohl ein Konsens mit SPÖ, FPÖ und Neos, die zusammen mit den Grünen über eine klare Mehrheit auf parlamentarischer Ebene verfügen.

Natürlich könnte Kurz jetzt versuchen, dem Absehbaren zuvorzukommen, eine Rede mit Anhängern um sich zu halten und auf Neuwahlen zu drängen. Einfach ist das aber nicht mehr für ihn. Erstens: Die Rede, mit der er das vor zwei Jahren nach Ibiza getan hat, könnte heute – wie hier dargestellt – praktisch unverändert gegen ihn gehalten werden. Zu sehr wird ihm zum Verhängnis, dass es ihm damals nicht um die Sache, sondern nur um den eigenen Vorteil ging. Dass er also nur einen Wahlerfolg anstrebte, nötige Konsequenzen aus dem Video aber von A bis Z unterließ (Reform der Parteienfinanzierung und der Presseförderung, Verschärfung der Korruptionsbekämpfung, Einführung von viel mehr Transparenz etc.).

Zweitens: Man gewinnt den Eindruck, dass sich Kurz und die Seinen verkalkuliert haben. Dass sie gemeint haben, relativ leichtes Spiel mit einer Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft zu haben, die ihm Falschaussage vor dem Ibzia-U-Ausschuss vorwirft. Die Beschimpfung der WKStA als „linke Zelle“ durch den Abgeordneten Andreas Hanger war schon vor diesem Hintergrund ungeheuerlich. Jetzt, da die WKStA auch noch die – richterlich genehmigten (!) – Hausdurchsuchungen auf Basis viel deutlicherer Vorgänge durchgeführt hat, wirken solche Aussagen geradezu staatsgefährdend. Genauso wie die aktuelle Aussage von türkisen Teilorganisationen, es gehe darum, Kurz zu „stürzen“. Das ist eine bedrohliche Grenzüberschreitung: Es handelt sich um eine Kriegserklärung einer mächtigen Regierungspartei an eine Justiz, die ihrem Chef gefährlich geworden ist.

Verloren ist Sebastian Kurz jedoch nicht. Das ist er erst, wenn er selbst bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Seine Aussagen im ZIB2-Interivew lassen darauf schließen, dass er weit davon entfernt ist. Das Äußerste ist, dass er behauptet, dass Rote auch nicht besser seien. Was im konkreten Fall bedeutet, dass die Stadt Wien vor fünf Jahren mehr für Inserate ausgegeben habe als die damalige Bundesregierung. Alternativ müssten ihn ÖVP-Landes- und -Bündeobleute fallen lassen. Um ihr Verantwortungsbewusstsein ist es aber kaum besser bestellt, wie der Tiroler Günther Platter in der Pandemie verdeutlicht hat. Andererseits: Wenn ihnen Kurz zu schaden beginnt, kennen sie nichts mehr. Aber so weit ist’s nicht.

Die (letzte) Stärke des Sebastian Kurz ist eine Schwäche seiner Mitbewerber: Ihre Gemeinsamkeiten sind mager. Das macht es ihm einfach, von einem dummen „Kurz muss weg“-Niveau zu sprechen und so seine verbliebenen Anhänger nur umso stärker zu sich zu ziehen. SPÖ, FPÖ, Grüne und Neos verbindet grundsätzlich nicht viel. Eine Koalition wäre undenkbar. Allenfalls nur für einen Übergang bis zu Neuwahlen wäre eine solche Konstellation möglich.

Gerade im Hinblick auf solche Neuwahlen wäre als Antwort auf Kurz aber ein breite Allianz für Transparenz und gegen Machenschaften im Verborgenen notwendig; für ernsthafte Politik und weniger Inszenierung; für eine starke Justiz und gegen Angriffe auf sie; für einen respektvollen Umgang mit allen Mitgliedern des Gesellschaft und gegen das Niedermachen einzelner Teile davon („Nicht-Fleißiger“, Fremder etc.);  für gelebten Parlamentarismus im Sinne der Wählerinnen und Wähler und gegen einen Persönlichkeitskult aus bloßem Eigennutz – es wäre eine Überraschung, wenn all dies von sämtlichen Parteien abseits der ÖVP gemeinsam propagiert werden würde.

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