ANALYSE. Karl Nahammer hat es aufgegeben, eine eigenständige Politik machen zu wollen. Er geht mehr und mehr dazu über, zu machen, was der FPÖ-Chef als Kanzler tun würde.
In Wien hätten sich einst Diplomaten versammelt, um die Spannungen auf dem Kontinent zu lindern, schrieb der britische „Economist“ Mitte Mai, um mit einem – aus österreichischer Sicht – beschämenden Satz zu schließen: Bald könnte die Politik, die in der Stadt gemacht wird, zu Spannungen auf dem Kontinent betragen.
Dazu ist es nicht einmal nötig, dass die FPÖ als stärkste Partei aus der nächsten Nationalratswahl hervorgeht und Herbert Kickl Bundeskanzler wird; er, der eine Festung Österreich errichten will, de facto also einen Öxit anstrebt; er, der gerne von Neutralität spricht, damit aber nur Russlandfreundlichkeit meint. Es reicht, dass die ÖVP, die mit Karl Nehammer den Kanzler stellt, mehr und mehr seine Politik macht.
Karl Nehammer ist vor eineinhalb Jahren als Lernender angetreten, der sich von seinem Vorgänger Sebastian Kurz absetzen möchte. Gekommen ist er nicht weit. Weltkrisen sind dazwischengekommen. Konkret: Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Vor allem aber sind Nehammer eigene Unzulänglichkeiten zum Verhängnis geworden.
In den ersten Tagen nach Kriegsbeginn schien der Kanzler gewillt zu sein, eine neue Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu entwerfen. Zumal man einst ja nur neutral geworden sei, weil es die Sowjets verlangt hätten, wie er sagte. Und zumal er signalisierte, der Ukraine beistehen zu wollen, soweit es geht: In einem Telefonat versicherte er Wolodimir Selenskyj „humanitäre Hilfe, um das Leid der Menschen in der Ukraine zu lindern“. In einem Hotel in Deutschland traf wer wenig später den Bruder des Kiewer Bürgermeisters Vitali Klitschko, boxte diesem kumpelhaft auf die Schulter und zollte seinem Volk „großen Respekt und Wertschätzung“, weil es „so tapfer und wehrhaft“ sei, „um für unsere Werte und Freiheit zu kämpfen“.
Dann reiste er zu Wladimir Putin nach Moskau – und bis heute weiß man nicht, wozu. Rückblickend muss man jedoch annehmen, dass dieser Karl Nehammer keinen Kurs hatte, sondern tat, was ihm oder irgendwelchen Beratern gerade passend schien.
Heute ist das anders, da orientiert er sich an FPÖ-Chef Herbert Kickl und einer verbreiteten Stimmungslage. Motto: Wir sind neutral und das bedeutet, dass wir uns raushalten, sofern es kritisch wird. Besser gesagt: Wenn’s kritisch wird, halten wir uns raus und betonen, neutral zu sein. Schlimmer: Der Kampf der Ukrainer ist nicht unser Kampf.
Es geht hier nicht um die Neutralität. Sie wird allenfalls nur vorgeschoben. Auch bei einem direkten österreichischen Beitrag zur Entminung ziviler Einrichtungen geht es nicht um die Neutralität. Es spricht für Nehammer, dass er einem solchen Beitrag eine Absage erteilt, ohne gleich auf die Neutralität zu verweisen. Was er auf „Twitter“ in einer ersten Reaktion zunächst schrieb, ist jedoch nicht besser. Im Gegenteil. Zitat: „Es wird kein österreichischer Soldat für einen operativen Einsatz zur Räumung von Minen ukrainischen Boden betreten, solange das ein Kriegsgebiet ist. Wer österreichische Soldaten in ein Kriegsgebiet schicken will, der riskiert, dass sie nicht mehr lebend zurückkommen.“
Frei nach dem Karl Nehammer aus dem vergangenen Jahr könnte man sagen: Mögen die Ukrainer für unsere Werte und Freiheit kämpfen, unser Leben ist uns wichtiger. Zur Verteidigung unserer Werte und Freiheit gehen wir nicht ans Äußerste dessen, was im Rahmen der Neutralität möglich wäre.
Es entspricht Kickl’s Geist: Gerade weil es so dramatisch ist, was in der Ukraine passiert, gibt es eine Tendenz dazu, wegzuschauen und so tun, als könne man sich da ganz raushalten; als könne man sich eine altbekannte Idylle auf einer Insel der Seligen herbeizaubern.
Genau genommen tragen Kickl und mehr denn je auch Nehammer dem in vielen Bereichen Rechnung: Klimakrise? Gibt es nicht, wir sind weiterhin ein Autoland. Migrationskrisen? Setzen wir gerne innenpolitisch ein, blockieren eine Schengen-Erweiterung und pflegen eine Partnerschaft mit Viktor Orbán.