ANALYSE. Der FPÖ-Chef ist (noch) nicht Kanzler, bestimmt jedoch die österreichische Politik.
Wie hier ausgeführt, steht österreichische Politik seit Jahren unter dem Einfluss der FPÖ. Auch unter Sebastian Kurz ist das so gewesen. Mit dem Unterschied, dass er freiheitliche Inhalte zu Asyl und Migration anders, jedenfalls aber wirkungsvoller (im Sinne von Wahlerfolgen) vertrat als Freiheitliche.
Und natürlich gibt es Themenkonjunkturen. Zu Beginn der Corona-Pandemie hatte FPÖ-Chef Herbert Kickl Pause. Spätestens durch die Ankündigung einer Impfpflicht änderte sich das wieder. Im heurigen Frühjahr schien die Teuerung zunächst Sozialdemokraten in die Hände zu spielen. Doch dann kamen Asyl und Migration auf die Agenda, ließ Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) Zelte aufstellen und versuchte gemeinsam mit Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) mehr und mehr, sich wie Kurz zu profilieren.
Wieder geht es letzten Endes um die FPÖ: Türkise wollen ihr das Thema nicht überlassen, sondern ihr die Hoheit mit ihren Mitteln entreißen.
Im Ergebnis ist der Inhalt damit ein zutiefst freiheitlicher. Es ist kein Zufall, dass ÖVP-Klubobmann August Wöginger im November – wie Kickl vor wenigen Jahren – forderte, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) zu „überarbeiten“. Es entspricht konkreten Vorstellungen. Insofern waren Beschwichtigungen, er habe nur die Auslegung gemeint, bloße Vernebelungsversuche.
Bei der Frage, warum er mit Rumänien und Bulgarien auf Konfrontationskurs gehe, mit Ungarn aber freundschaftlich zusammenarbeite, lässt Nehammer tief blicken: Beim Nachbarland legt er Wert auf eine sicherheitspolizeiliche Kooperation.
Das ist genau genommen ein Hammer: Ungarn ist dafür verurteilt, Menschen de facto keinen Zugang zu Asylverfahren, also internationalem Schutz, zu gewähren (daher gibt es nur rund fünf Anträge pro Monat). Es ist auch für das Zurückdrängen von Migranten an der Grenze („Pushbacks“) verurteilt sowie für die rechtswidrige Inhaftierung von Frauen, Männern und Kindern – zum Beispiel in der „Transitzone“ Röszke, ohne Nahrung und angemessene medizinische Versorgung, was unmenschlicher und erniedrigender Behandlung entspricht (Quelle: Amnesty-Länderbericht).
Das wird nicht weit von der Politik entfernt sein, die sich Herbert Kickl für Österreich vorstellt; die Österreich bereits durch den gemeinsamen Kampf gegen „Asyltourismus“ (Nehammer) mit Ungarn zumindest indirekt unterstützt. Klar, dass hier ein Konflikt mit der EMRK besteht. Wobei es zwei Möglichkeiten gibt, darauf zu reagieren: Man ändert sie. Oder man bestärkt, weil man sich das auf dem eigenen Territorium halt doch noch nicht leisten kann, Viktor Orbán einfach, zu machen, pfeift also auf die EMRK. Was im Grunde genommen noch schlimmer ist, als sie überarbeiten zu wollen, geht es hier doch um Rechtlosigkeit.
Die FPÖ gibt den Ton an. Das war eben auch unter Sebastian Kurz so: Die von Ex-Innenminister Herbert Kickl zu Ausreisezentren erklärten Abschiebezentren wurden 2019, wenige Wochen vor der Nationalratswahl, bei denen es vor allem auch um die Stimmen enttäuschter FPÖ-Anhänger ging, gegen dessen Wunsch wieder rückbenannt. Wäre seinem Wunsch entsprochen worden, würden sie vielleicht noch heute so heißen.
Die Grünen hätten sich schwergetan, das zu ändern. Im Wissen, dass er dauerhaft vom Zuspruch enttäuschter FPÖ-Anhänger anhängig ist, um vorne zu bleiben, hat Kurz dafür gesorgt, Asyl und Migration allenfalls zum koalitionsfreien Raum erklären zu können. Nehammer besinnt sich in der misslichen Lage seiner Partei darauf zurück und zieht gegen den grünen Willen etwa das Schengen-Veto gegen Rumänien und Bulgarien durch. Wobei er sich zumindest sozialdemokratischer Unterstützung erfreuen darf: Auch Pamela Rendi-Wagner macht Kickl mächtig, indem sie hier mit Blick auf eine Wählermasse nicht wagt, von seiner Line abzuweichen.