In einer Welt von gestern

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ANALYSE. Mit einer „Normalitätsdebatte“ hätten Nehammer und Mikl-Leitner Stimmen gewinnen können. Sie haben jedoch ignoriert, wie anspruchsvoll das ist – und dass sie sich selbst im Weg stehen.

Ja, die Mitte wirkt weit, wenn die SPÖ nach links und die FPÖ nach rechts rückt. Acht von zehn Österreicherinnen und Österreicher positionieren sich „eher in der Mitte“, wie das Institut für Höhere Studien (IHS) berichtet. In der ÖVP hat man eine Chance gewittert und über St. Pölten angefangen, von Normaldenkenden und Normalität zu reden. Damit wäre wirklich sehr viel zu holen gewesen – wenn man sich etwas angetan hätte.

Die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) und Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) haben Normalität jedoch erstens banal und zweitens negativ definiert: Sie kam in einem Gastkommentar in der Tageszeitung „Der Standard“ mit „Haus-“ und „gesundem Menschenverstand“ daher, er in einem Video damit, was bzw. wer nicht normal sei: „Es sind Klimakleber oder Linksradikale genauso wie Rechtsradikale oder Identitäre. Es sind islamistische Hassprediger genauso wie Vandalen und sonstige Extremisten.“ Beziehungsweise: Nicht normal ist für Nehammer wie Mikl-Leitner, dass sie dafür kritisiert werden, Normalität festlegen zu wollen.

Vielleicht verstehen sie es wirklich nicht. Möglicherweise entspricht ihr Zugang dem, den ÖVP-Klubobmann August Wöginger im Nationalratswahlkampf 2019 präsentiert hat. Wörtlich sagte er damals vor Parteianhängern in Oberösterreich: „Es kann ja nicht sein, dass unsere Kinder nach „Wean“ fahren und als Grüne zurückkommen. Wer in unserem Haus schlaft und isst, hat auch die Volkspartei zu wählen.“

Normal ist demnach eine Welt von gestern, die nur noch Vorstellungen einer schwindenden Minderheit entsprechen dürfte. Anders formuliert: Normal ist heute zum Beispiel auch für (ehemalige) ÖVP-Stammwähler nicht nur, dass ihre Kinder studieren gehen und selbstbewusst-eigenständig werden, sondern dass sie gerne auch selbst die Partei wechseln. Siehe nö. Landtagswahl. Normal ist im Übrigen eine – nach Herkunft, Religion, Ansichten etc. – diverse Gesellschaft, normal sind schwindende Gewissheiten in Leben und Beruf.

Vor diesem Hintergrund müsste man Normalität neu definieren. Als solidarische Hochleistungsgesellschaft in einer europäischen, liberalen Demokratie etwa. Das könnte (vielleicht) der Sehnsucht der 80 Prozent gerecht werden, die sich eher in der Mitte sehen.

Mikl-Leitner und Nehammer haben erkannt, dass es gerade in Zeiten multipler Krisen nicht nur eine Nachfrage nach zum Beispiel rechtsextremen Kräften gibt, sondern viel mehr noch nach ebensolchen, die für etwas stehen, was maximal mögliche Sicherheit, Stabilität und damit auch Ruhe gibt. Sie haben jedoch ignoriert, dass sie sich dafür schon etwas überlegen müssen. Sie haben quasi geglaubt, mit einem Bekenntnis zum Schnitzel sei es getan.

Es spricht Bände, dass Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer, einer der bedeutendsten ÖVP-Funktionäre, in einem „Presse“-Interview gerade ein neues Parteiprogramm gefordert hat. Das zeigt, wo es wirklich Handlungsbedarf gibt. Zum Beispiel bei der Herstellung echter Wahlfreiheit für Frauen mit Kindern. Dem muss jemand gerecht werden, der 2023 mit dem Ziel, politisch erfolgreich zu sein, von Normalität spricht.

Wobei: Sehr wahrscheinlich berauben sich Mikl-Leitner und Nehammer ohnehin selbst ganz grundsätzlich dieser Möglichkeit, indem sie ja nicht Wählerinnen und Wähler der Mitte umwerben, sondern Wählerinnen und Wähler, die eher rechts davon stehen. Indem sie im Wettstreit mit Freiheitlichen gerade Signale gegen eine europäische, liberale Demokratie aussenden und von Leistung allenfalls reden, wenn sie jemandem unterstellen wollen, in der Hängematte zu liegen.

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