ANALYSE. Flüchtlingskrise: Kurz bestimmt den Kurs, Kogler begnügt sich mit einer abweichenden Privatmeinung – und muss sich für die Zukunft wohl etwas Besseres einfallen lassen.
„Ordentliche Mitte-Rechtspolitik“ wird fortgesetzt, der Unterschied zwischen Türkis-Blau und Türkis-Grün ist schwer erkennbar. Dazu muss man schon genauer hinschauen und -hören. Unter Ex-Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) wäre nicht nur kommuniziert worden, dass Sicherheitskräfte im Falle des Falles die Grenzen dicht machen und niemanden durchlassen, wie es der nunmehrige Amtsinhaber Karl Nehammer (ÖVP) tut. Kickl hätte auch gesagt, dass Warnschüsse abgegeben werden und Wasserwerfer genauso eingesetzt werden wie Gummimunition. Das lässt sich daraus schließen, dass der Freiheitliche genau das gerade in der Tageszeitung „Österreich“ sagen durfte.
Sonstige Unterschiede zwischen Türkis-Grün und Türkis-Blau? Schwer zu sagen, ob die alte Regierung für die „Hilfe vor Ort“ (bzw. in Syrien) drei Millionen Euro aus dem Auslandskatastrophenfonds bereitgestellt hätte, wie sie es die neue nun zumindest angekündigt hat. Andererseits: Was sind schon drei Millionen Euro? Nicht nichts, aber: Laut UNHCR gibt es allein in Syrien 6,6 Millionen Flüchtlinge.
Die ÖVP bekräftigt „Grenzen schützen, Grenzen schützen, Grenzen schützen“: Grünen-Klubobfrau Sigrid Maurer mag es überhaupt nicht angebracht finden, die derzeitige Situation mit jener des Jahres 2015 zu vergleichen, der Kanzler vergleicht sie, indem er betont, dass sich 2015 nicht wiederholen dürfe. Also wird alles getan, um das zu verhindern: Griechenland wird ebenso unterstützt, Grenzen für Flüchtlinge zu schließen bzw. Männer, Frauen und Kinder mit allen Mitteln abzuwehren wie Ungarn. Und wenn das alles nichts hilft, dann geht man eben selbst ans Werk. Das Bundesheer soll laut Ex-Verteidigungsminister Thomas Starlinger ausgerechnet heuer in die Pleite schlittern, für einen entsprechenden Assistenzeinsatz soll es neben möglichen Coronavirus-Diensten offenbar aber noch reichen.
Die Grünen haben bei alledem nichts zu melden: Klar, sie können betonen, dass sie die ganze Sache anders regeln würden. Die Wirklichkeit ist jedoch bitter für sie: Zunächst spricht sich ihr Chef, Vizekanzler Werner Kogler, dafür aus, zumindest Frauen und Kinder aus überfüllten Lagern nach Österreich zu holen, dann gesteht er nach einer Unterredung unter Führung von Sebastian Kurz, dass das nur seine private Meinung gewesen sei; die Regierung sei „nicht so weit“.
Koglers Drama: Dass die türkise ÖVP jemals so weit sein wird, Flüchtlinge nach Österreich zu bringen, glaubt er wohl selber nicht. Das kann sie sich gar nicht leisten: Sie hat das Gegenteil davon verkündet und ist daher auch dafür gewählt worden. Das ist das Geschäftsmodell, das Kurz groß gemacht hat.
Das ist eine humanitäre Katastrophe für die Grünen: Sie sehen sich quasi gezwungen, Menschlichkeit zu privatisieren und Unmenschlichkeit – widerwillig, aber doch – über ihre Regierungsbeteiligung zu dulden. Mitgefangen, mitgehangen. Geregelt ist das im Regierungsprogramm, das es der ÖVP ermöglicht, gemeinsame Sache mit den Freiheitlichen zu machen, wenn die Grünen gar nicht mehr wollen (was schon nach zwei Monaten natürlich kein Thema sein kann für sie).
Kogler und Co. werden sich etwas einfallen lassen müssen. Vielleicht sollten sie zum Beispiel eine sichtbare Außenpolitik entwickeln und über internationale, grüne Kontakte auch pflegen. Das würde zunächst zwar nichts daran ändern, dass sie sich der ÖVP beugen müssen, würde ihre Glaubwürdigkeit, sich um Lösungen über bloßes „Grenzen schützen“ hinaus zu bemühen, jedoch massiv stärken.
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