ANALYSE. Wann sickert bei ÖVP und SPÖ, dass sie erst mit sich selbst ins Reine kommen müssen, um an eine neuartige Regierungszusammenarbeit mit Hilfe von ein, zwei weiteren Parteien auch nur denken zu können?
Sie wollen nicht verstummen, die Stimmen, die von einer „Großen Koalition“ reden. Im „Standard“ hieß es in einer Analyse gerade, dass in der Sozialdemokratie einige Leute glauben, dass die Zeichen in Wien und ganz Österreich auf „Rot-Schwarz“ stehen würden – „oder eine andere Regierungskonstellation, in der ÖVP und SPÖ zusammenarbeiten“.
Dieser Zugang stammt von Leuten, die nicht erkennen wollen, was läuft. Die Sache ist die: Auf Bundesebene geht sich Rot-Türkis bzw. Türkis-Rot nicht aus. Es bräuchte ein, zwei weitere Parteien. Diese Parteien – Stand heute: Grüne und/oder Neos – wären schlecht beraten, sich so mir nichts, dir nichts als Mehrheitsbeschaffer herzugeben. Doch lassen wir das.
Wichtiger sind zunächst ein paar andere Dinge. Erstens: Jedes Gerede von einer „Großen Koalition“, die es ohnehin nicht mehr geben kann in der gewohnten Form, ist gefühlt dazu angetan, ÖVP und SPÖ einen weiteren Prozentpunkt zu kosten. So unpopulär ist sie. Auch unter den Anhängern der beiden Parteien: Für einen Türkisen ist die Vorstellung, mit Andreas Babler in einem Boot zu sitzen, ungefähr so attraktiv wie es für einen Sozialdemokraten der Gedanke ist, ein Bündnis mit dem langjährigen Sebastian Kurz-Vertrauen Karl Nehammer eingehen zu müssen.
Zweitens: ÖVP und SPÖ sind mit sich selbst nicht im Reinen. Die ÖVP meint, nach Kurz einfach nur weiter Rechtspopulismus betreiben zu müssen. Auch wenn sie von Wahlniederlage zu Wahlniederlage läuft. Bei der SPÖ setzt Babler auf klar linke Ansätze. Das geht zum einen nicht zusammen und ist zum anderen auch jeweils parteiintern nicht im Sinne aller.
Drittens: ÖVP und SPÖ muss es offenbar erst noch viel schlechter gehen, damit nötige Klärungsprozesse in ihren Reihen stattfinden und sie auch nur an eine neue Koalition denken können.
Viertens: Es muss klar sein, dass eine „Große Koalition“ nicht mehr geht. Das ist sozialpartnerschaftliches Denken, das in der Welt von Arbeiter- und Wirtschaftskammer noch existiert, in jener von Regierung und Parlament in einer zersplitterte Parteienlandschaft aber keinen Platz mehr hat.
Abgesehen davon: „Große Koalition“ stand in den letzten Jahren unter anderem auch dafür, sich zu jeder noch so kleinen Frage auf einen Kompromiss zu verständigen. Das hat zuletzt nicht mehr funktioniert, weil es kein gemeinsames Ziel mehr gegeben hat.
Fünftens: Ehe sich ÖVP und SPÖ auf die Suche nach einem möglichen Koalitionspartner oder nach möglichen Koalitionspartnern begeben, müssen sie nicht nur mit sich selbst ins Reine kommen, sondern sich in einem weiteren Schritt überlegen, was sie gemeinsam überhaupt wollen könnten; was Österreich weiterbringen könnte und auch im Sinne sehr vieler Menschen wäre. Sehr wahrscheinlich müssten wenige, aber relevante Politikfelder definiert werden, zu denen eine Verständigung auf Veränderungen möglich ist.
Sechstens: So könnte dann auch aus einer Mehrparteienkoalition etwas werden: Es gibt ein paar Bereiche, zu denen konkrete Vorhaben vereinbart werden. Darüber hinaus muss sie von der Überzeugung getragen sein, dass man einander leben lassen und maximal Mögliches zugestehen muss. Sonst ist das Ganze tödlich insbesondere für Neos oder Grüne zum Beispiel, weil sie in einer solchen Konstellation nach herkömmlichem Verständnis noch weniger gestalten könnten und vor allem auch noch mehr ertragen müssten als es die Grünen jetzt schon an der Seite der ÖVP tun müssen – was ihnen derzeit gut ein Drittel ihrer Stimmen kosten würde; obwohl hier angeblich „Das Beste aus beiden Welten“ gilt.
Siebtens: Wenn man das so zusammenschreibt, kommen Zweifel, ob stark von Interessen geprägte Parteien wie ÖVP und SPÖ jemals so weit über sich hinauswachsen könnten, wie es notwendig wäre. Andererseits: Wenn sie überleben wollen, müssen sie es tun.