ANALYSE. Bei der EU-Wahl im kommenden Jahr sind für die Freiheitlichen deutlich mehr als 30 Prozent möglich. Ihre Positionen sind mehrheitsfähig, ÖVP und SPÖ erwecken nicht den Eindruck, groß dagegenhalten zu wollen.
Wie hier ausgeführt, ist die ÖVP bisher ganz gut gefahren mit einer Doppelstrategie bei Europawahlen. Also einem Kandidaten oder einer Kandidatin für eine breitere Masse und mit Othmar Karas. Damit wurde sie ihrem Anspruch gerecht, Europapartei zu sein und feierte immer wieder Wahlerfolge. Doch damit ist jetzt Schluss. Die ÖVP hat Karas das Gefühl gegeben, ihn nicht mehr zu brauchen, sie wurde ihm zu antieuropäisch – und so verkündete er, bei der Wahl am 9. Juni 2024 nicht mehr für sie antreten zu wollen.
Was macht die ÖVP jetzt? Ein Karas lässt sich nicht von heute auf morgen ersetzen. Proeuropäische Wählerinnen und Wähler drohen ihr abhanden zu kommen. Neos und Grüne wird’s freuen. So sind für die beiden zusammen gut und gerne 25 Prozent drinnen.
Die ÖVP, die 2019 noch auf Platz eins gekommen war, steht davor, aufgerieben zu werden. Ein Schicksal, das sie mit der SPÖ teilt. Schaut man sich deren Kandidat:innenliste mit Andreas Schieder an der Spitze an, muss man daran zweifeln, dass Parteichef Andreas Babler den Urnengang ernst nimmt. Schieder hat in den vergangenen Jahren in Österreich kein Image als Europapolitiker entwickeln können. Er ist weder schlecht noch sonst irgendwie aufgefallen. Das ist nicht gut für die SPÖ.
Im Hinblick auf die kommende Wahl gibt die FPÖ von Herbert Kickl mit Harald Vilimsky den Takt an. Was sie liefern werden, ist absehbar und von Kickl gerade auch im Zusammenhang mit einer Sondersitzung des Nationalrats skizziert worden: Es ist ein Programm für ein isolationistisches Österreich, das de facto eine Öxit-Politik betreibt: „Angesichts der geschilderten multiplen Bedrohungen der österreichischen Souveränität und Neutralität bedarf es eines erhöhten Schutzes dieser Werte durch die österreichische Bundesverfassung – beispielsweise durch ein nationales Souveränitätsrecht, das Vorrang gegenüber EU-Gesetzen hat“, so Kickl wörtlich. Im Klartext: Österreich soll nur noch dann Teil der Union sein, wenn’s nationalen Vorstellungen entspricht. Eine Art flexible Mitgliedschaft. Was praktisch natürlich nicht geht.
Vor wenigen Jahren noch hätte sich Kickl mit einer solchen Ansage disqualifiziert. Heute kann er sich mit seiner Partei Hoffnungen machen, bei einer EU-Wahl deutlich mehr als 30 Prozent zu erreichen. Aus zwei Gründen: In Österreich finden – laut Eurobarometer-Befragung vom Frühsommer – nur noch 44 Prozent, dass die Mitgliedschaft bei der Europäischen Union eine gute Sache ist. Ähnlich viele (43 Prozent) meinen, dass das Parlament, um das es beim Urnengang gehen wird, eine weniger wichtige Rolle spielen sollte in Zukunft. Dass es also entmachtet werden soll. Was aufgrund eines ohnehin schon bestehenden Demokratiedefizits bemerkenswert ist, aber einer wachsenden anti-europäischen Grundstimmung entspricht.
Außerdem spricht die Kickl-FPÖ mit einer Absage an die EU-Sanktionen gegen Russland sowie Militärhilfe für die Ukraine als einzige österreichische Partei aus, was den Vorstellungen etwa der Hälfte der Wählerschaft entspricht.
Bei alledem profitiert diese FPÖ davon, summa summarum keinen Gegner, keine Gegnerin neben Neos und Grünen zu haben. Die ÖVP beschränkt ich darauf, gegen Kickl als Person aufzutreten. Daraus, dass seine Partei Richtung Öxit zieht, macht sie keine Affäre.
Die SPÖ zeigt ebenfalls keine Ambitionen, sich bei der EU-Wahl als Gegenpol zur FPÖ zu positionieren. Sonst würde sie sich nicht mit Schieder als Spitzenkandidat begnügen. Sonst würde sie bereits heute anfangen, europapolitisch aufzuzeigen.
Es ist seltsam, dass sie das unterlässt: Damit wären nicht wenige Wählerinnen und Wähler zu holen. Es könnte eine Bewegung entstehen, die Babler bei der Nationalratswahl im Herbst brauchen würde, wenn er noch Kanzler werden möchte. Gerade über das Europathema, das für Weltoffenheit und Diversität steht, wäre das möglich.