ANALYSE. „Das Wohl der Kinder hat Vorrang vor allen anderen Interessen“, heißt es im Programm der ÖVP. Sie selbst widerspricht dem jedoch immer öfter. Womit sie sich einer Grundsatzdebatte stellen müsste.
„Wir arbeiten für eine familienfreundliche Gesellschaft“, heißt es gleich zu Beginn des Grundsatzprogramms der ÖVP, das noch nicht einmal ein Jahr alt ist: „Das Wohl der Kinder hat Vorrang vor allen anderen Interessen.“ Das ist insofern bemerkenswert, als in der Tagespolitik immer weniger davon zu spüren ist: Am Anfang steht eine Steuerreform, die gerade einmal mit 0,1 von insgesamt fünf Milliarden Euro Familien allein zugute kommt; am Ende steht der jüngste Ministerratsbeschluss auf Druck der Partei, wonach Asylwerbern der Familiennachzug erschwert werden soll.
Zwischendurch brachte sich die ÖVP noch weitere Male selbst in einen Konflikt mit ihrem eigenen Programm: Die Beitragssenkung zum Familienlastenausgleichsfonds (FLAF) trieb Interessenvertreter auf die Barrikaden, die der Partei in der Vergangenheit eher wohlgesonnen waren. „Das ist ein Skandal der Extraklasse, den wir uns nicht kritiklos gefallen lassen können“, schäumte Alfred Trendl, Präsident des Katholischen Familienverbandes. Durch Beteuerungen der ÖVP-Familienministerin Sophie Karmasin, es werde zu keinen Leistungskürzungen kommen, ließ sich Trendl nicht besänftigen: „Die Regierung will offenbar immer weniger „Kohle“ für die Familien abgeben“, argwöhnte er.
Was ist wichtiger? Oder ist all das ohnehin nachrangig, um nicht zu sagen, beliebig?
Wie die Beschränkung des Familiennachzugs gegen Flüchtlinge gerichtet ist, so ist offenbar eine andere Forderung der Volkspartei: Die Mindestsicherung soll auf maximal 1500 Euro pro Monat beschränkt werden. Davon betroffen sind naturgemäß vor allem kinderreiche Familien; aber nicht nur ausländische, sondern auch österreichische.
Sofern sich die Partei ernst nimmt, zwingt sie sich damit eine Grundsatzdebatte auf: Sind Aspekte wie Sicherheit, budgetäre Spielräume und Positionierungen aus taktischen Überlegungen wichtiger als Familien? Warum sollen die Kinder ihren „Vorrang vor allem anderen Interessen“ verlieren? Was ist wichtiger? Oder ist all das ohnehin nachrangig, um nicht zu sagen, beliebig?