ZUM JAHRESABSCHLUSS. Gerade in Zeiten multipler Krisen mag es schwerfallen, österreichischer Politik zu folgen. Es ist jedoch wichtig: Große Umwälzungen sind im Gange.
In einer Aussendung hat ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker einen Redakteur des Nachrichtenmagazins „profil“ diffamiert. Anlass: In einem Faktencheck für das Magazin und den ORF hatte dieser berichtet, was aus einer „Landarzt-Garantie“ der niederösterreichischen Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) geworden sei: Die Zahl unbesetzter Praxen habe sich versiebenfacht.
Hier kommen mehrere Dinge zusammen. Erstens, die ÖVP, der es schlecht geht, kämpft mit allen Mitteln ums Überleben. Zweitens, Stocker greift ein Magazin an, das wirtschaftlich angeschlagen ist und bei dem es nach Übernahme der Geschäftsführung durch den stellvertretenden „Kurier“-Chefredakteur Richard Grasl ohnehin schon Sorge um die Zukunft der journalistischen Unabhängigkeit gibt.
Drittens: Der ORF muss diese Unabhängigkeit nach der Chat-Affäre um Matthias Schrom und Vorwürfen gegen den niederösterreichischen Landesdirektor Robert Ziegler mehr denn je unter Beweis stellen. Den meisten Redakteuren fällt das nicht schwer. Es ist aber ein Problem: Einzelne stehen unter Verdacht, sie hätten sich politisch einspannen lassen. Und Generaldirektor Roland Weißmann hat bisher immer nur reagiert bzw. das Allernötigste getan. Er ist ein deutliches Signal schuldig, das hör- und sichtbar macht, wem der ORF verpflichtet ist. Merkt der Mann das nicht? Oder kann er’s nicht?
All das ist eine dichte Szene aus dem Jahr 2022. Auf der einen, noch nicht erwähnten Seite steht eine Öffentlichkeit, die aufgrund die Ereignisse in der Ukraine und den Bedrohungen, die damit einhergehen, zu erschlagen wirkt, um sich auch noch mit Geschehnissen in Österreich auseinanderzusetzen. Zu klein wirkt das, worum es hier geht. Das setzt Medien extra zu: Zusätzlich zu einem Anzeigen- kommt ein verschärfter Leserschwund. Außerdem wird Papier teurer. Lässt die türkis-grüne Bundesregierung die „Wiener Zeitung“ sterben. Warnt der einfach nur getrieben wirkende Roland Weißmann vor „einer der größten Finanzkrisen der ORF-Geschichte“. Ist die vierte Gewalt, vorsichtig formuliert, außer Form.
Auf der anderen Seite steht eine Politik, die nicht besser aufgestellt ist und die kein Interesse hat, dafür zu sorgen, die vierte Gewalt zu stärken. Förderungen mögen ausgeweitet werden. Sie fließen bezeichnenderweise aber eher vorbei an innovativen, zukunftsorientierten Medienprojekten für einen Qualitätsjournalismus, der sich selbst tagen könnte. Unbegrenzt bleiben nur Inserate, die zu oft unter dem Verdacht stehen, mit einem Gegengeschäft in Form von willfähriger Berichterstattung verbunden zu sein. Außerdem ist es ja eben die Politik von ÖVP und Grünen, die zum Tod der „Wiener Zeitung“ führt.
Diese Politik ist Ausdruck einer Schwäche. Sie erträgt keinen Widerspruch, sie hofft, sich mit Kampagnen auf Steuerzahlerkosten behaupten zu können. Sie ist zudem in sich selbst gefangen: Gerade die ÖVP, die auf Bundesebene und in den meisten Ländern bestimmend ist, ist mit solchen Verlusten in Umfragen und bei Wahlen konfrontiert, dass sie nicht mehr die Kraft aufbringt, gestalterisch tätig zu sein. Sie begnügt sich damit, groß klingende Änderungen wie die Abschaffung der kalten Progression vorzunehmen oder unzählige Antiteuerungspakete zu fixieren, lässt die längerfristige Finanzierung jedoch offen.
Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) versucht, sich und seine Partei zunehmend durch eine Flucht in Kurz’sche Asyl- und Migrationspolitik zu retten. Damit scheint er vorerst jedoch nur der FPÖ auf Kosten der SPÖ zu dienen und nicht direkt zum eignen Vorteil zu wirken.
Es ist grundsätzlich müßig, darüber zu spekulieren, wie Wahlen in ein, zwei Jahren ausgehen könnten. In diesem Fall ist es das aber ganz besonders. Es entsteht ein Vakuum, in dem (fast) alles möglich wird. Es gibt nicht so sehr eine Sehnsucht nach einer bestimmten Partei oder einem bestimmten Kanzler. Maßgebend ist Ablehnung: Die einen sind „nur“ für die Freiheitlichen, weil sie von den Türkisen enttäuscht sind, andere geben Sozialdemokraten allein aus diesem Grund den Vorzug.
Zu große Teile der Politik merken gar nicht, wie sehr sie sich selbst schaden, weil sie sich nicht aufrichtig um Zuspruch durch Bürgerinnen und Bürger bemühen. Wenn sie – zum Beispiel aus einer Regierungsposition heraus – glauben, diese mit Hilfe unkritischer Medien sowie ein paar Ankündigungen und Überweisungen zufriedenstellen zu können, werden sie erst recht nicht ernstgenommen. In Niederösterreich wird Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) um Verhängnis, dass der Eindruck entsteht, sie habe ausgerechnet in dem Land, in dem es in Ermangelung urbaner Zentren ohnehin keine Gegenöffentlichkeit gibt, einen ORF-Direktor zur Sicherstellung einer Art Hofberichterstattung nötig gehabt: Das ist das Gegenteil von Größe. Es ist mickrig, entwürdigend.