ANALYSE. Karl Nehammer dürfte mit ein paar Akzenten im ORF-Sommergespräch auch eigene Parteifreunde überrascht haben. Was bleibt, sind jedoch Widersprüche.
Am Tag nach dem ORF-Sommergespräch hat Familienministern Susanne Raab (ÖVP) die Ankündigung von Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP), Kinderbetreuung für unter 3-Jährige auszubauen, weil es da ja eine Versorgungslücke gibt, natürlich unterstützt. Unfreiwillig hat sie damit aber zum Ausdruck gebracht, dass sie heute dies und morgen jenes sagt; bzw. dass sie das sagt, was von ihr verlangt wird: Vor wenigen Wochen noch hat sie im APA-Sommerinterview gebremst. „Ich glaube, dass das auch bis zu einem gewissen Grad die Lebensrealitäten der Menschen abbildet“, zeigte sie sich mit den gegenwärtigen Verhältnissen zufrieden, um schließlich die bisherige Parteilinie zu bekräftigen. Betont wird demnach eine sogenannte „Wahlfreiheit“. Das lief darauf hinaus, dass erst auf eine entsprechende Nachfrage hin Betreuungsangebote ausgebaut werden; und dass so gar nicht daran gedacht wird, dass der umgekehrte Ansatz dazu führen könnte, dass Angebote Nachfrage schaffen und damit letzten Endes erreicht wird, dass mehr Frauen für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.
Der bisherige ÖVP-Ansatz kam auch dem nahe, was im geltenden Grundsatzogramm der freiheitlichen Partei steht. Zitat: „Die Betreuung von Kindern in familiärer Geborgenheit wird von uns staatlichen Ersatzmaßnahmen vorgezogen.“
Dass Nehammer davon abrückt, kann insofern als bemerkenswertes Signal gesehen werden: Auf Druck der Wirtschaft, die in Person von Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer gerade eine entsprechende Änderung der ÖVP-Position gefordert hat, rückt er in einer wichtigen Fragen in die Mitte.
Und wenn man Mitte mit „Gemäßigt sein“ gleichsetzt, kann man überhaupt finden, dass sich Nehammer in diesem Sommergespräch darum bemüht hat. Ö1-Redakteur Stefan Kappacher hat gleich auf Twitter (X) festgehalten, wie er das Gesprächszimmer im Parlament gewürdigt hat. Als Raum nämlich, der Geschichte hat und in dem am Rande von Plenarsitzungen schon sehr viel Wichtiges beredet worden ist. Damit habe er Herbert Kickl eine „Ohrfeige“ gegeben, so Kappacher. Zur Erinnerung: Dieser hatte von einem „Stasi-Verhörzimmer“ gesprochen. Das war auch eine Herabwürdigung des Parlaments.
Damit hat Nehammer Kickl deutlicher als Nicht-kanzlertauglich dargestellt als mit bisherigen Botschaften. Wie es ihm auch in Bezug auf seine Positionierung in der Mitte mit der Ansage zur Kinderbetreuung eher gelungen ist als mit der unsäglichen Normalitätsdebatte.
Bloß: Nehammer bleibt ein Zerrissener. Sein Problem ist, dass er nicht nur die Mitte besetzen möchte, sondern auch rechts von sich keinen Platz für eine größere Partei lassen möchte. Dass er weiterhin auch FPÖ-Ansagen tätigen möchte. Anders, aber doch. Kaum eine Woche vergeht, in der er nicht erklärt, dass das europäische Asylsystem „kaputt“ sei. In seinem Wahlprogramm wird eine Kürzung von Sozialleistungen für Zugewanderte enthalten sein. Im Sommergespräch hat er lang und breit ausgeführt, warum er kein Interesse an ernsthafter Klimapolitik hat (unter anderem weil das kleine Österreich kaum ins Gewicht falle und man das Land im Übrigen nicht zu einem Industriemuseum verkommen lassen wolle).
„Glaubt an dieses Österreich“, lautet der Satz von Leopold Figl, den auch Nehammer der Nachwelt hinterlassen möchte, wie er im Sommergespräch wissen ließ. Er wird aber wohl immer ausschließlich mit Figl verbunden werden.
Der gegenwärtige ÖVP-Chef behält sich die Option einer Regierungszusammenarbeit mit der FPÖ weiterhin vor. Nur mit Herbert Kickl gehe es nicht. Der sei ein Sicherheitsrisiko. Und was ist mit anderen Vertretern der Partei? Zum Teichtmeister-Urteil hat zum Beispiel der Wiener Landesobmann Dominik Nepp gerade gewittert: „Wenn der Rechtsstaat so versagt, braucht man sich in Zukunft über Selbstjustiz nicht wundern.“ Das ist nichts anderes als eine Ermunterung für Leute wie jene Demonstranten, die mit einem Galgen vor dem Gerichtsgebäude standen, zur Tat zu schreiten. Soll heißen: Wenn Nehammer glaubwürdig sein möchte in seiner neuen Rolle, muss es sich nicht zuletzt auch dazu unmissverständlich positionieren.