ANALYSE. Wie die FPÖ von türkisen und sozialdemokratischen Schwächen profitiert. Und warum Kickls Chancen aufs Kanzleramt erheblich sind.
Man könnte lang und breit darüber schreiben, dass die FPÖ gar nicht so gut abgeschnitten hat bei der Europawahl wie da und dort erwartet. Was bleibt, ist jedoch dies: Zum ersten Mal in der Geschichte ist sie bei einem bundesweiten Urnengang auf Platz eins gelandet. Im Übrigen könnte man es gefinkelt anlegen und argumentieren, warum die ÖVP bei all ihrem Unglück durchaus zufrieden sein kann: Ein Absturz auf weniger als 20 Prozent ist ihr erspart geblieben. Sie ist (zweitens) nicht hinter die SPÖ zurückgefallen und muss daher nicht befürchten, im Hinblick auf die Nationalratswahl im September ganz wegzubrechen. Womit sie (drittens) gute Chancen hat, ihre Scharnierfunktion zu behalten: Das bedeutet, dass sie bei der nächsten Regierungsbildung entscheidend sein wird; dass auch ein Kanzler Kickl nur mit ihrem Zutun möglich sein wird.
Das alles ist vorerst jedoch müßig. Die Nationalratswahl wird kaum so ausgehen wie die Europawahl. Schaut man sich die beiden Ergebnisse bei den Urnengängen vor fünf Jahren an, stellt man fest, dass sich Trends verstärkt haben. Dass Sieger größere Sieger und Verlierer größere Verlierer wurden.
Heute muss man sich daher fragen: Was kann noch passieren, dass die FPÖ bei der Nationalratswahl nicht so klar auf Platz eins kommt, dass sich Herbert Kickl schwertut, ins Kanzleramt zu kommen?
In den vergangenen ein, zwei Jahren war die Teuerung wahlentscheidend. Das hat sich geändert. Sie ist – auch in der Wahrnehmung sehr vieler Menschen – als Problem kleiner geworden. Laut ORF-Befragung zur Europawahl standen nun Krieg und Zuwanderung im Vordergrund.
Den Krieg hatte die FPÖ auf ihrem Plakat. Aber wie: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj als Paar und daneben das Wort „Kriegstreiberei“. Inhaltlich versprach sie Frieden und meinte damit, Sanktionen gegen Russland aufzuheben und Hilfe für die Ukraine zu stoppen. Die Ukraine also Putin zu überlassen. Und morgen vielleicht das nächste Land, auf das er Appetit hat.
Die deutsche „Bild“-Zeitung sprach vom ekelhaftesten Plakat Europas. Das Schlimme ist: In Österreich kann man so Wahlen gewinnen. Eine Erklärung dafür ist, dass es einer Sehnsucht nach einem Ende dieses Krieges entspricht, der Europa bedroht. Eine in dieser Form geradezu kindliche Sehnsucht, die ausblendet, worum es hier geht; die aber von einer breiten Masse geteilt wird, weil es hierzulande keine offene Auseinandersetzung mit dem Thema gibt. Verantwortung dafür tragen auch ÖVP und SPÖ, die diese Sehnsucht insofern nähren, als sie zum Thema eher nur den Begriff Neutralität beizusteuern haben. Als wären damit alle Probleme gelöst.
Zuwanderung war der andere wahlentscheidende Inhalt. Die FPÖ hat dazu längst Pflöcke eingeschlagen. Asyl: „Obergrenze null“. Im Übrigen „Remigration“. Da hat sie kaum noch einen Gegner. Nach der ÖVP zeigt nun auch die SPÖ Tendenzen, zu kapitulieren. Ihr Klubobmann Philip Kucher ließ drei Tage vor der Europawahl mit der Botschaft aufhorchen, dass jetzt auch seine Partei für Abschiebungen nach Afghanistan sei. „Mannheim“ war der Anlass. Tags darauf wurde das relativiert, hieß es, dass es um Abschiebungen Richtung Afghanistan gehe. Das machte die Sache jedoch nur schlimmer: Die, für die die Universalität der Menschenrechte unumstößlich ist, blieben enttäuscht; und die, die vielleicht kurz erwogen hatten, jetzt vielleicht doch nicht die FPÖ, sondern die SPÖ zu wählen, ließen das wieder sein.
Das Beispiel steht dafür, dass es den ehemaligen Großparteien nicht und nicht gelingt, die Kontrolle über ein Thema zu gewinnen. Ein Thema, auf das in Zeiten multipler Krisen womöglich besonders viele Menschen ansprechen, weil es dafür steht, dass Politik überhaupt die Kontrolle verloren hat.
Das Schlimme ist, dass das so weit geht, dass Kickl nicht mehr schadet, was ihm vor zehn, 20 Jahren zum Problem geworden wäre: Auf Platz eins gesehen zu werden, war einst nicht ungefährlich für Freiheitliche. Nicht wenige Wähler wollten, dass sie stark sind, aber nicht, dass sie vorne liegen. In diesem Sinne war es auch kein Vorteil für Jörg Haider oder Heinz-Christian Strache, als möglicher Kanzler gesehen zu werden. Es war eher ein Nachteil für sie.
Das Schlimme ist, dass Kickl nicht nur einfach damit punktet, sich als Kanzlerkandidat anzubieten, sondern dass er das tut, indem er sich als „Volkskanzler“ präsentiert. Also als einer, der vorgibt, dass er im Sinne aller schier absolutistisch regieren würde. Womit Schluss wäre mit Demokratie.
Dazu passt, dass die FPÖ bei der Europawahl trotz Harald Vilimsky auf Platz eins kommen konnte. Also obwohl dieser Mann jeglichen Diskurs zerstört, verächtlich gegenüber Mitbewerbern agiert und mit einem Öxit spielt.
Man könnte jetzt schreiben, dass Freiheitliche damit ja nur eine relative Mehrheit erreichen. Das Schlimme ist jedoch, dass sie, wenn sie bei einer Nationalratswahl, bei der sie erfahrungsgemäß eher besser abschneiden als bei einer Europawahl, zum Beispiel auf 30 Prozent kommen, damit rechnen können, dass die ÖVP durchaus mit ihr und nicht mit Sozialdemokraten und Grünen oder Neos koaliert. Weil sie mit ähnlichen Ansagen in einem ähnlichen Wählerteich fischt wie die FPÖ. Und weil es daher gerade dann, wenn sie viele Wähler an diese verliert, naheliegend ist für sie, sich – wenn schon, denn schon – um eine gemeinsame Politik zu bemühen. Siehe Niederösterreich, siehe Salzburg.